Auf einem Graffiti stand mein Nachname und „verrecke!“

Leon ist 16 und geht in Berlin-Lichtenberg zur Schule. Seitdem an seiner Schule Steckbriefe verteilt wurden, hat er immer Pfefferspray dabei. | Foto: Philipp Sipos.
An einem Morgen bin ich mit dem Fahrrad auf den Schulhof eingebogen, da stand schon mein Klassenlehrer und hat mich zu sich gewunken. Ich habe einen Moment überlegt, ob ich was verbockt habe. Er sagte, dass Steckbriefe aufgehängt worden seien, mit einem Foto von mir, meinem vollständigen Namen, meiner Telefonnummer und den Worten „kennen sie diesen links radikalen“, „abstand halten“ und „vorsicht walten lassen“.
Nicht nur die Groß- und Kleinschreibung waren falsch, die Steckbriefe sahen lieblos aus: ein Screenshot von meinem Instagram-Profilbild und so hässliche blaue Schrift. Es sah aus, als hätte jemand den Farbdrucker der Mutter benutzt. Gleichzeitig hat sich jemand die Mühe gemacht, solche Steckbriefe aufzuhängen. Das war ein komisches Gefühl. Ich glaube, dass Jungs aus unteren Jahrgangsstufen dahinterstecken. Ich habe sie deswegen insgeheim die Gummibärchenbande genannt und habe das mit den Steckbriefen am Anfang auch nicht so ernst genommen. Trotzdem habe ich seit dem Morgen, an dem mein Klassenlehrer mich zu sich gewunken hatte, immer Pfefferspray dabei.
Mein Gefühl ist, dass die Jungs in den unteren Jahrgängen noch rechter sind als die Leute bei mir in der Stufe. Sie laufen mit kurzen Haaren, Springerstiefeln und weißen Schnürsenkeln rum, verteilen Reichsflaggen-Sticker im Schulgebäude. Für sie ist es okay, rechts genannt zu werden. Aber als wir sie mal als Nazis bezeichnet haben, haben sie sich bei der Schulleitung beschwert. Zwei Freunde von mir mussten dann sagen, dass sie das nicht wieder machen würden.
Die Steckbriefe waren nur ein Teil der Geschichte. Nach einer Demo haben Nazis eine Ecke von meinem Zuhause entfernt auf mich gewartet. In der Nähe der Schule habe ich ein Graffiti entdeckt, da stand mein Nachname und „verrecke!“ Mein Vater hat gesehen, wie Leute durch unsere Straße gelaufen sind und so lange alle Klingelschilder angeguckt haben, bis sie meins gefunden haben. Dann haben sie umgedreht. Im März ist es eskaliert, da wurde ich mit zwei Freunden von einer Gruppe Nazis verfolgt. Da waren nicht nur Jugendliche dabei, die sahen älter aus. Die waren breit gebaut und hatten teilweise schwarze Schlauchschals an, auf denen Skelette abgebildet waren. Innerhalb von Sekunden haben sie sich wie eine Kampfformation geordnet und sind hinter uns her. Wir haben uns bei meiner alten Grundschule vor denen versteckt, mitten in der Nacht, und die Polizei gerufen. Aber als die kam, waren unsere Verfolger längst weg. Nur von einem wurden die Personalien aufgenommen.
Am nächsten Morgen hat mein Vater ein Kamerasystem besorgt und zu Hause installiert. Im Monat danach war ich abends nicht draußen. Wenn ich unsere Straßenlaternen sehe, die haben gelbliches Licht, gelblicher als anderswo in Berlin, spüre ich Stress. Ich gucke mich mittlerweile fünfmal um, wenn ich nach Hause gehe. Ich gehe immer einen bestimmten Weg, wo es keine Abzweigungen gibt und nicht plötzlich irgendwelche Leute auftauchen können. Bevor ich in unsere Straße einbiege, gucke ich manchmal von meinem Handy aus, ob ich Schatten auf der Kamera sehe, die mein Vater installiert hat.
Es gibt Tage, an denen ich mich sicherer fühle und Tage, an denen ich mich unsicher fühle. Letztens war ein schlechter Tag. Ich habe überlegt, was ich am besten anziehen soll, falls ich zusammengeschlagen werde. Damit es weniger wehtut. Ich habe mich für eine Lederjacke entschieden und sogar einen Fahrradhelm aufgesetzt. Das mache ich normalerweise nicht.
In der Schule habe ich keine Angst. Ich weiß, die anderen würden mich schützen. Das liegt auch daran, dass einige Freund:innen und ich mit unseren Aktionen eine Schulgemeinschaft geschaffen haben. Im Januar haben wir zum Beispiel eine Schülervollversammlung zum Thema rechtsextremer Einfluss an Schulen organisiert. Wir machen seit Jahren politische Arbeit und machen damit klar, dass Neonazis keine Antworten haben und dass man sich dagegen organisieren muss. In der Schule habe ich das Gefühl, dass wir etwas ändern können.
Zwei Wochen nach der Verfolgung in der Nacht gab es eine Solidaritätsdemo. Da waren über 200 Leute. Das war krass. Linke Demos gibt es bei uns in Berlin-Hohenschönhausen eigentlich nicht. Nach dem Vorfall sind viele Lehrkräfte zu mir gekommen und haben gefragt, wie es mir geht. Ein Mitschüler meinte zu mir: „Ey, ich bin zwar nicht links, aber wenn irgendwas ist, dann ruf mich an und ich bin da.“
In derselben Zeit wollte mein Schulleiter unbedingt mich und einen der Jungs aus dem Jahrgang unter mir an einen Tisch bringen. Ich wollte nicht. Irgendwann meinte mein Vater: Komm, wir gehen da jetzt hin. Mein Schulleiter hat gesagt, dass es einen Konflikt gebe und dass der eine politische Ursache habe. Die Eltern des Jungen haben das komplett abgestritten. Sie meinten, ihr Sohn sei unpolitisch. Ihnen war wichtig, dass ihr Sohn nicht als Nazi bezeichnet wird. Keine Ahnung, ob die das wirklich glauben oder einfach glauben wollen. Während dieses Gesprächs hat er kaum was gesagt, er ist aber einer derjenigen, der Reichsflaggen-Sticker ins Schulgebäude klebt oder auf Fotos mit anderen Jugendlichen, mit Deutschlandfahne und Hakenkreuz-Sticker posiert. Gebracht hat das Gespräch nichts, auch wenn seine Eltern meinten, wir seien doch ähnliche Typen und könnten doch eigentlich befreundet sein. Nein, könnten wir nicht.
Gerade jetzt muss ich weitermachen. Wenn ich aufhören würde, politisch zu sein, könnte ich mich der Gewalt vielleicht entziehen. Andere können das nicht, zum Beispiel migrantische oder queere Menschen. Wenn ich mich sicher fühle und andere sich nicht sicher fühlen können, will ich das nicht. Das heißt nicht, dass ich irgendwelche Leute mit meinem Engagement beschütze. So wichtig bin ich nicht. Eine rechte Regierung ist schlecht für alle. Ich mache das auch für mich.
Wir haben die Schulleitung um Stellungnahme gebeten, erhielten aber keine Antwort.
Ich wurde gemobbt und zwar aus politischen Gründen

Luka* ist 16 und lebt in einer Kleinstadt in Brandenburg. Er fällt auf, auf der Straße und in der Schule. Nicht nur wegen seiner Kleidung. | Foto: Philipp Sipos.
An Silvester wurde ein Junge in unsere Klassen-Whatsappgruppe hinzugefügt. Jemand meinte, er käme nach den Ferien in unsere Klasse. Das stimmte aber gar nicht. Der Neue hat geschrieben: „ich bin stolzer afd Wähler neben bei.“ Andere haben sich ihm angeschlossen. Einer hat geschrieben, der Dritte Weg sei genauso gut. Der Neue hat ein Meme geschickt, auf dem Hitler jemanden vergewaltigt.
Ich habe geschrieben, dass sie damit aufhören sollen. Sonst hat niemand was geantwortet. In einer Parallelgruppe mit Freund:innen habe ich gesagt: Kann doch nicht sein, dass ich die einzige Person bin, die sagt, dass die Scheiße labern. Zwei haben sich dann getraut und in der Klassen-Whatsappgruppe Kontra gegeben.
Ich habe vor zwei Jahren eine Naturschutzpetition in die Klassengruppe gesendet. Mir wurde sofort von mehreren Personen zurückgemeldet, dass politische Themen nicht in den Klassenchat gehören. Ich habe das akzeptiert. Wenn jemand AfD-Zeug postet, sagt aber niemand was.
Anfang Januar habe ich eine Mail an meine Klassenlehrerin geschrieben und die Vorfälle der letzten Jahre aufgelistet. Der Betreff: „Rechtes Problem in u.a. unserer Klasse“. Ich schrieb: „Ich fange echt an zu verzweifeln, da es seit einiger Zeit geht und immer schlimmer wird. Und dass manche Lehrer:innen das N-Wort oder anders überhören oder ignorieren, macht es nicht viel besser. Ich hoffe, sie können irgendetwas ändern oder zumindest etwas mit den Infos anfangen.“
Meine Klassenlehrerin hat das Thema nach den Ferien einmal in der Klasse angesprochen. Sie hat gesagt, bitte lasst das mal. Das wars.
An meiner Schule gibt es viele rechte Menschen. Die sind lauter als alle anderen. Sticker vom Dritten Weg, Hitlergrüße, Leute werden als Juden beleidigt oder mit dem N-Wort beschimpft. In der Pause hat mal einer diesen Song angemacht, bei dem dann alle „Ausländer raus“ singen. Die Lehrer schauen weg. Häufig habe ich eher was gesagt als meine Lehrer. Ich hatte das Gefühl: Die meisten waren froh, wenn auch ich die Klappe gehalten habe.
Ich bin Angriffsfläche, in der Schule und außerhalb. Weil ich blaue Haare habe, Piercings und politische Shirts und Sticker trage.
Mir wird dauernd hinterhergeguckt, in der Bahn werden Fotos oder Videos von mir gemacht. Ich werde beleidigt oder angebrüllt. Letztens saß ich in der Bahn, da haben sich drei Jungs vor mir aufgebaut und Hitlergrüße gemacht.
Letzten Herbst habe ich das erste Mal überlegt, die Schule zu wechseln. Gemacht habe ich es dann nach Ostern. Ich war da schon zwei Monate krank geschrieben, es ging einfach nicht mehr. Ich wurde gemobbt, und zwar aus politischen Gründen. Ich kenne nur linke oder queere Jugendliche an unserer Schule, die gemobbt wurden.
Der Schulwechsel war die beste Entscheidung. An der neuen Schule habe ich die besten Freund:innen der Welt getroffen. Es gibt ein paar Jungs mit antifeministischen Takes, aber mit denen kann man reden. Alle sind Anti-AfD.
Lukas Name wurde zu seinem Schutz geändert. Sein richtiger Name ist der Redaktion bekannt. Lukas ehemalige Klassenlehrerin erklärte auf unsere Anfrage hin, dass sie aus dienstrechtlichen Gründen nicht antworten könne.
Mein Schulleiter meinte: ‚Früher hatten wir noch richtige Nazis mit Springerstiefeln‘

Max ist 16 und ging bis diesen Sommer in Bad Dürrenberg in Sachsen-Anhalt zur Schule. Bei der U18-Wahl seiner Schule hat die AfD fast die Hälfte aller Stimmen erlangt. | Foto: Stella Weiß
In meiner Schule ecke ich seit der achten Klasse an. Ich hatte entschieden, dumme Sprüche von Mitschülern oder Lehrkräften nicht mehr stehen zu lassen. Ich habe Lehrkräften gemeldet, wenn Hakenkreuze an Wänden oder Tischen aufgetaucht sind. Wenn ein Mitschüler mir auf dem Gang entgegengekommen ist, den Hitlergruß gemacht und „Sieg Heil“ gesagt hat. Wenn bei der Mottowoche das Lied „L’amour toujours“ angemacht und „Ausländer raus“ gesungen wurde. Das hatte nie ernsthafte Folgen für jemanden. Vor einem Jahr habe ich die Ergebnisse unserer U18-Wahl veröffentlicht. Das war kurz vor den Europawahlen. 47 Prozent bei uns an der Schule haben die AfD gewählt, erst mit großem Abstand danach kam die CDU.
Ich lud die Ergebnisse am Freitagnachmittag auf Twitter und Facebook hoch. Am Montagmorgen wurde ich direkt zur Schulleitung bestellt, der Anlass dafür war ein Artikel der Mitteldeutschen Zeitung. Die hatten das aufgegriffen. Mein Schulleiter fand gar nicht gut, dass ich die Ergebnisse der Wahl veröffentlicht hatte. Er wollte keine schlechte Presse. Ich hatte vor dem Gespräch eine Sozialarbeiterin gefragt, ob sie mich begleiten könne. Es störte meinen Schulleiter sehr, dass ich nicht alleine gekommen war. Er sagte, wie ich es wagen könne, jemanden mitzubringen, ohne vorher zu fragen. Der saß in einer komplett ablehnenden Haltung da, ich hatte das Gefühl, ich spreche mit einer Wand. Er zeigte mir deutlich: Ich bin Chef und du nicht. Nachdem ich all die Vorfälle aufgelistet hatte, die ich in den Monaten zuvor erlebt hatte, meinte er sowas wie: „Früher hatten wir noch richtige Nazis mit Springerstiefeln.“
Mein Schulleiter ist seit vielen Jahren im Amt. Und hier kennt jeder jeden. Die Leute sind vorsichtig, man will es sich nicht mit seinem Nachbarn oder der Friseurin verscherzen. Meistens war ich der Einzige, der etwas gegen rechte Sprüche und rassistische Scheiße gesagt hat. Ich weiß, dass ich Mitschüler:innen hatte, die denken wie ich. Aber gesagt haben sie nichts.
Und dann gibt es noch Leute wie meinen alten Sozialkundelehrer. Er verglich im Unterricht die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Mao Zedong, dem chinesischen Diktator, und sagte, die Correctiv-Recherche zum „Geheimplan gegen Deutschland“ sei Propaganda gegen die AfD. Dass man deutsche Städte nicht mehr wiedererkennen würde, wegen der ganzen Migrant:innen. Mein Vater ist selbst aus dem Irak. Ich habe den Lehrer wiederholt gebeten, den Unterricht neutral zu gestalten. Er sagte darauf nur: „Deine Meinung.“
An einem Tag ist es eskaliert. Im Sozialkundeunterricht haben wir über die anstehende Europawahl gesprochen, es ging um Migration. Irgendjemand meinte was von „Kanackenbonus“ beim Bürgergeld. Wie immer diskutierte ich alleine gegen mindestens sechs Leute, die anderer Meinung waren. Ich habe mich ausgeliefert gefühlt und habe den anderen das erste Mal erzählt, dass ich seit Längerem von rechten Leuten bedroht werde. Dann bin ich aufgestanden und nach Hause gegangen. Mein Lehrer meinte noch: „Das ist schwach.“ Von dort habe ich direkt die mobile Opferberatung angerufen. Es gab nie eine offizielle Erklärung, aber seit diesem Tag hat mein Sozialkundelehrer nicht mehr in meiner Klasse unterrichtet.
An unserer Schule ist es Mainstream, rechts zu sein. Die meisten Politiker:innen verstehen nicht, dass gerade eine Generation verloren geht. Geld für politische Arbeit wird gekürzt, es gibt kaum Jugendclubs und dann wird auch noch diskutiert, den Skatepark zu schließen.
Im April habe ich auf einer Querdenker-Demo eine Rede gehalten, in der ich die Demonstranten kritisiert habe. Ich habe gesagt, dass ich Antifaschist bin. Einen Monat danach habe ich meine Abschlussprüfungen geschrieben. Die Polizei hat mir genau in der Woche meiner Prüfungen empfohlen, nicht zu Hause zu schlafen, weil sie die Gefährdungslage nicht einschätzen konnte. Also habe ich bei einer Bekannten übernachtet. Nach der Rede wurde ich bedroht: Online habe ich viel Hass bekommen, aber nicht nur das. Anonyme Anrufer haben am Telefon gesagt, sie wüssten, wo ich wohne und dass sie jemanden vorbeischicken würden. An einem Abend hat mich eine Gruppe Jugendlicher an meiner Tramhaltestelle beschimpft.
In diesen Wochen habe ich mich gefragt, warum ich das alles mache. Warum ich den Mund aufmache und laut bin. Dann habe ich angefangen, anderen zu erzählen, wie es mir mit den Drohungen geht.
Ich glaube, wenn man nicht darüber spricht, geht es einem nicht gut.
Ich möchte gerne hier bleiben, das ist mein Zuhause. Aber ich frage mich, wie lange ich hier noch sicher bin. Nächstes Jahr sind Landtagswahlen, und ich mache mir Sorgen. Hoffnung habe ich nicht mehr, nur noch Mut. Den bekomme ich von den Leuten, die mir online folgen oder von Leuten, die mich auf der Straße ansprechen. Wie die Frau im Netto, die vor ein paar Tagen auf mich zukam, mich grüßte, mir in die Augen schaute und sagte: „Mach weiter so!“
Wir haben die Schulleitung sowie den Sozialkundelehrer um Stellungnahme gebeten, erhielten aber keine Antwort.
Hier findest du Teil 1 des Reports („Mit diesen vier Methoden schüchtern die AfD Lehrkräfte ein“), hier geht es zu Teil 2 („Ich glaube, die AfD will uns zermürben“) und hier zu Teil 3 („Wieso haben es Rechtsextreme mit Schulen so leicht?“). Abonniere hier unseren Newsletter, um den letzten Teil des Reports nicht zu verpassen. Dort erklären wir, wie sich Schulen besser gegen rechts wappnen können:
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger.