Majed Reyad war alleine im Frauenzentrum, als sie Schüsse hörte. Das Flüchtlingscamp, in dem sie lebt, wurde von israelischen Truppen gestürmt. Ängstlich durchforstete sie lokale Telegram-Gruppen, um herauszufinden, was draußen gerade passierte.
Es kommt regelmäßig zu solchen Razzien in Flüchtlingslagern im Westjordanland, wenn die israelische Armee eine bestimmte Person sucht. Dabei sterben immer wieder auch Unbeteiligte. Ende vergangenen Jahres zum Beispiel wurde in dem Ort, in dem auch Majed lebt, ein 25-jähriger Friseur von einer Kugel im Kopf getroffen, als er bei sich zuhause in der Küche stand. Bei der gleichen Razzia starb eine 80-jährige Frau, als sie auf dem Weg zum Markt war.
Solche Geschichten hatte Majed Reyad wahrscheinlich im Kopf, als sie alleine im Frauenzentrum auf Nachrichten wartete. Die 31-Jährige, blau-weiß gemusterte Bluse, cremefarbener Hijab, sitzt an ihrem Arbeitsplatz, dem kleinen Büro des Frauenzentrums, als sie davon erzählt. In der Ecke dreht sich ein Ventilator, an der Wand hängt ein Bild von Jassir Arafat, dem berühmten palästinensischen Politiker. „Ich hatte Angst, weil ich nicht wusste, wo ich hingehen sollte“, sagt Majed. Rausgehen? Keine Option, obwohl ihr Zuhause nur wenige Minuten entfernt liegt.
Majed arbeitet als Sekretärin im Balata Frauenzentrum, einer Initiative lokaler Frauen, die im Balata Flüchtlingslingscamp leben. Es liegt im Norden des Westjordanlandes, knapp 50 Kilometer Luftlinie von Tel Aviv entfernt. Mehr als 33.000 Menschen wohnen hier, auf nur einem Viertel Quadratkilometer. Die Bevölkerungsdichte ist damit mehr als 30 Mal so hoch wie in Berlin.
In den vergangenen zwei Jahren rückte Gaza ins Zentrum der globalen Aufmerksamkeit: das Ausmaß der Zerstörung, der Hunger und das Schicksal der israelischen Geiseln beschäftigen viele. Aber auch im Westjordanland spitzt sich die Lage seit dem 7. Oktober 2023 immer weiter zu. Daran ändert auch nichts, dass es einen wackeligen Waffenstillstand in Gaza gibt und die verbliebenen lebenden israelischen Geiseln zurückgekehrt sind.
Das Leben sei schwierig im Camp, erzählt Majed, es sei instabil und unsicher. Die größte Belastung, so erzählen es viele Anwohner:innen sind die Razzien – und dass niemand weiß, wann die nächste kommt. Die Frauen, die sich hier engagieren, wollen andere wappnen, damit sie besser im Alltag klarkommen. Und manchmal wollen sie ihnen einfach nur eine kleine Auszeit gönnen.
Was im Westjordanland auf dem Spiel steht
Um zehn Uhr morgens beginnt die Sportstunde im Frauenzentrum mit einem ägyptischen Popsong. Trainerin Safaa Abd Alazeez macht mit ausholenden Bewegungen die Übungen vor und strahlt dabei in den Spiegel an der Wand vor ihr. Wenn sich jemand zu lange am Rand herumdrückt und Pause macht, zieht Safaa die Teilnehmerin mit gespielter Strenge zurück in die Mitte des Sportsaals. Ungefähr zehn Frauen machen ihre Tanzschritte, Squats und Ausfallschritte nach, boxen dazwischen in die Luft. Ein paar Kinder klettern währenddessen auf den Geräten herum, die am Rand des kleinen Sportraums stehen.
Trainerin Safaa kommt als einzige nicht aus dem Flüchtlingscamp, sie gibt auch Kurse in anderen Fitnessstudios im Westjordanland. Die Möglichkeiten seien hier eingeschränkter als anderswo, wird sie nach der Stunde sagen. „Es fehlen die grundlegenden Dinge“. In der Umkleide zum Beispiel lassen sich die Türen nicht abschließen. Die kleine Kammer, in der Sportgeräte lagern, hat kein Licht.
Auch im restlichen Camp zeigt sich die Armut an jeder Ecke: am Müll, der auf den Straßen liegt und an den Einschusslöchern in den Hauswänden, die nicht repariert werden. Häuser, die bei Explosionen beschädigt wurden, baut niemand wieder auf.
Man muss nicht lange durch Balata laufen, um beschädigte Häuser und Einschusslöcher zu finden. | © Isolde Ruhdorfer
Seit dem 7. Oktober 2023 beschränkt Israel die Einreise für Palästinenser:innen aus dem Westjordanland. Vorher gingen viele Palästinenser:innen zum Arbeiten nach Israel, jetzt sitzen die meisten von ihnen im Westjordanland fest. Sie haben keinen Job mehr und damit auch kein Geld. An Orten wie dem Balata Refugee Camp verschärft das die Lage für die Bewohner:innen.
Das Balata Flüchtlingscamp ist eines von Dutzenden solcher Camps im Nahen Osten. Sie wurden vor rund 75 Jahren eingerichtet, als hunderttausende Palästinenser:innen ihre Heimat verloren. Das geschah während des arabisch-israelischen Krieges 1947–1949 und der Staatsgründung Israels 1948. Rund 700.000 Palästinenser:innen mussten fliehen oder wurden vertrieben, auf Arabisch ist dieses Ereignis als „Nakba“ bekannt, auf Deutsch: Katastrophe. Die Menschen, die damals fliehen mussten, ließen sich an diesen Orten nieder, an denen ihre Nachfahr:innen bis heute leben. Aus Provisorien wurden kleine Städte, mit Häusern und Straßen.
Die „Flüchtlingscamps“, die eher „Flüchtlingsstädte“ heißen müssten, stehen unter immer größerem Druck. Seit Anfang des Jahres 2025 geht die israelische Armee gegen bewaffnete Gruppen im Westjordanland vor. Drei Flüchtlingscamps räumte die Armee ganz, rund 40.000 Menschen mussten ihr Zuhause verlassen und wissen nicht, ob und wann sie zurückkehren können.
Das ist Teil einer grundsätzlichen Verschärfung der Lage im Westjordanland: Im Sommer genehmigte Israels rechtsextremer Finanzminister Bezalel Smotrich das Siedlungsprojekt „E1“, das 3.400 neue Wohneinheiten im Westjordanland vorsieht. Es soll, Smotrichs eigenen Worten nach, einen palästinensischen Staat verhindern.
„Macht Sport. Nicht für euren Mann. Nicht für eure Kinder. Nur für euch selbst.“
13 Frauen engagieren sich im Frauenzentrum, die meisten von ihnen ehrenamtlich. Sie bieten Kurse an, zum Beispiel einen Erste-Hilfe-Kurs oder einen Fotografie-Workshop. Und natürlich die Sportstunde, die fast jeden Morgen stattfindet.
Trainerin Safaa trägt während der Stunde eine enge Sporthose und einen schwarzen Sport-BH. „Ich sage den Frauen immer: Macht Sport“, sagt sie. „Nicht für euren Mann. Nicht für eure Kinder. Nur für euch selbst.“ Viele könnten am Anfang ihren Körper nicht richtig bewegen, täten sich zum Beispiel schwer mit einer boxenden Bewegung. „Es sieht aus wie eine Sportaktivität, aber die Frauen kommen nicht nur für Training hierher“, sagt Safaa, „sie kommen, um ihre Stimmung zu verbessern, um negative Energie aus ihren Körpern und Kopf zu vertreiben.“

Die Frauen in ihrem Kurs wollen bessere Laune bekommen – die hat Trainerin Safaa zu bieten. | © Isolde Ruhdorfer
Der Hauptgrund für „negative Energie“ im Balata Flüchtlingscamp sind die Razzien, wie die, die Sekretärin Majed Reyad unvorbeitet im Frauenzentrum traf. Alleine im Juli gab es 1.300 davon, schreibt die israelische Zeitung Haaretz. Diese Razzien seien ein „wesentlicher Bestandteil“ der israelischen Besatzung. Oft fallen Schüsse, manchmal gibt es Explosionen. Und immer wieder stirbt ein Camp-Bewohner.
Nach UN-Informationen töteten israelische Sicherheitskräfte und radikale Siedler:innen seit dem 7. Oktober 2023 rund 960 Palästinenser:innen im Westjordanland. In der gleichen Zeit wurden bei gewaltsamen Zusammenstößen mit Palästinenser:innen rund 70 Israelis getötet.
„Ich komme hierher, um Muskeln aufzubauen und meinen Körper stärker zu machen“
Auch Malak Zubidee kommt zu dem Sportkurs, um die Gefahren des Alltags zu vergessen. Seit einem Monat trainiert die 18-Jährige regelmäßig. Sie hat aber noch eine andere Motivation: „Ich komme hierher, um Muskeln aufzubauen und meinen Körper stärker zu machen“. Malak will Polizistin werden und sich auf das Studium vorbereiten.
Der Sportkurs habe sie sozialer gemacht, sagt Malak: „Seit ich hierherkomme, habe ich mich komplett verändert“. Es sei einfach, hier mit den anderen Frauen in Kontakt zu kommen. Während der Sportstunde lächelt sie viel, obwohl ihr Schweiß an den Schläfen herunterläuft.
Auch Maram Atallah bekommt durch die Sportstunde bessere Laune. Die 33-Jährige, breites Lächeln, neongelbes Shirt, hat vier Söhne. Während sie sich nach der Stunde ihren schwarzen Hijab anzieht, erzählt sie, warum es ihr so wichtig ist, hierherzukommen.
„Es ist der einzige Weg für mich, mal aus dem Haus zu kommen“, sagt sie – auch wenn sie gelegentlich Freunde zu Hause besuche. „Andernfalls habe ich keine Lust auf meinen Mann und meine Kinder!“ Sie lacht, während sie das sagt und die anderen Teilnehmerinnen stimmen ein. Das Frauenzentrum ist der einzige Ort im Balata Flüchtlingscamp, der sich nur an Frauen richtet. Das nächste Fitnessstudio ist weit weg und teurer.
Maram ist eine der wenigen, die die Stunde ohne Pause, in der ersten Reihe, durchgezogen hat. Trainerin Safaa musste sie kein einziges Mal gespielt ernst zurückziehen. Als ich Maram nach dem Stretching frage, wie sie sich jetzt fühle, bestätigt sie strahlend: „Sehr, sehr glücklich.“
Transparenzhinweis: Ich war in Israel im Rahmen des Sylke-Tempel-Fellowships, das auch die Flugkosten übernommen hat. Dieser Text ist allerdings außerhalb des Fellowships entstanden.
Redaktion: Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Theresa Bäuerlein, Bildredaktion: Gabriel Schäfer, Audioversion: Iris Hochberger