Auf der Collage sieht man Trump, Lula und Bolsonaro vor der berühmten Statue in Rio de Janeiro.

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Politik und Macht

Demokratien können sich wehren! Wie genau, zeigt Brasilien

Mordpläne und ein Putschversuch: In Brasilien versuchte Ex-Präsident Bolsonaro, die Macht an sich zu reißen. Doch der Staat wehrt sich. Drei Lektionen, die Europa jetzt braucht.

2025 war ein gutes Jahr für die Demokratie. Das klingt vielleicht wie ein schlechter Scherz, schließlich verwandeln sich die USA in einen autoritären Staat, in Deutschland liegt die AfD in vielen Umfragen auf dem ersten Platz und in Frankreich scheint der Weg des rechtsextremen Rassemblement National an die Macht kaum noch aufzuhalten.

Laut dem Demokratie-Index des Economist existieren aktuell nur 25 „vollständige Demokratien“ weltweit, weniger als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in einem demokratischen Staat. Dennoch war 2025 ein gutes Jahr für die Demokratie, wie ein Blick nach Südamerika zeigt.

Brasilien hat vorgemacht, wie eine wehrhafte Demokratie im 21. Jahrhundert überleben kann. Von 2018 bis 2022 regierte der rechtsextreme Jair Bolsonaro das Land. Nachdem er 2022 abgewählt wurde, versuchte er, sich durch einen Staatsstreich an der Macht zu halten. Es gab Pläne, seinen Nachfolger zu ermorden, und seine Anhänger:innen stürmten Regierungsgebäude in der Hauptstadt Brasilia. Jetzt sitzen Bolsonaro und viele seiner Mitstreiter:innen in Haft, trotz massiven Drucks der US-Regierung von Donald Trump, die Anklage fallen zu lassen.

Damit kann das Land – trotz aller Unterschiede – Europa zeigen, wie wir uns gegen die autoritäre Gefahr der kommenden Jahre wappnen können.

Lektion 1: Ein extremer Angriff braucht extreme Antworten

Am 8. Januar 2023, kurz nach Amtsantritt des linken Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, stürmten Bolsonaro-Anhänger:innen den Kongress, den Präsidentenpalast und den Obersten Gerichtshof in der Hauptstadt Brasilia. Sie zertrümmerten Scheiben, Möbel und Kunstwerke, pinkelten auf Teppiche, schlugen Polizist:innen und Journalist:innen nieder und legten Feuer.

In Europa sieht man das bis heute als eine Kopie des Sturms auf das US-Kapitol vom 6. Januar 2021. Der Vergleich liegt nah. In beiden Ländern versuchte ein rechtsautoritärer Amtsinhaber zunächst, demokratische Wahlen als unfair und sabotiert darzustellen. In beiden Ländern stachelte er anschließend mit Hilfe der Sozialen Medien seine Anhängerschaft dazu auf, das Wahlergebnis nicht zu akzeptieren. Und in beiden Fällen griffen große Mobs anschließend das Parlament an. Doch die Lage in Brasilien war gefährlicher als in den USA.

Die Ermittlungen der brasilianischen Bundespolizei haben ergeben, dass im Dezember 2022 bereits ein Killerkommando aus Spezialkräften auf der Lauer lag, um Alexandre de Moraes, Richter an Brasiliens Oberstem Gerichtshof, zu ermorden. Das Vorhaben wurde abgebrochen, weil de Moraes an diesem Tag nicht am geplanten Ort auftauchte. In Bolsonaros Präsidentenbüro wurde zuvor das Mordkomplott gegen de Moraes und Bolsonaros Nachfolger Lula da Silva ausgedruckt. Ex-Präsident Bolsonaro fragte in einem Treffen mit den Spitzen von Armee, Marine und Luftwaffe, ob sie ihm folgen würden, sollte er den Ausnahmezustand erklären. Der Economist kommt zu dem Schluss, dass der Staatsstreich der „Bolsonaristas“ letztlich an Inkompetenz scheiterte, aber nicht an einem fehlenden Plan oder am Willen, die Demokratie abzuschaffen.

Demokratische Institutionen haben in einer solchen Situation zwei Optionen. Entweder sie nehmen sich zurück, um nicht als parteiisch oder spaltend wahrgenommen zu werden. Oder sie gehen in den Gegenangriff über – trotz der Gefahr, ihre Kompetenzen zu überschreiten und ihren Ruf als unabhängige Institutionen zu verlieren.

Brasilien hat sich für den zweiten Weg entschieden. Nach dem Angriff auf das Parlament nahmen Sicherheitskräfte rund 1.500 Teilnehmer:innen des Putschversuches fest, darunter Ex-Minister und hohe Regierungsbeamte. Erst wurde Ex-Präsident Bolsonaro für acht Jahre von Wahlen ausgeschlossen. Im September verurteilte der Oberste Gerichtshof ihn zu 27 Jahren Haft. Andere Mitstreiter Bolsonaros wurden ebenfalls zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Zum Beispiel muss der ehemalige Verteidigungsminister Paulo Sérgio Nogueira de Oliveira 21 Jahre ins Gefängnis.

Das ist ein riskanter Weg. Jair Bolsonaro ist noch immer einer der beliebtesten Politiker:innen des Landes. Der Prozess gegen ihn und seine Mitverschwörer hat dazu geführt, dass die Bolsonaristas den Obersten Gerichtshof verachten und als parteiisch wahrnehmen. Doch die Urteile erzielen auch Wirkung. Sie schrecken ab. Einflussreiche rechte Politiker:innen und die mächtige Wirtschaftselite im Süden des Landes – die traditionell eher rechts wählt – scheinen sich von den Putschisten abzuwenden und nach gemäßigteren Kandidierenden für die kommende Präsidentschaftswahl 2026 zu suchen. So gilt neben Bolsonaros Sohn Flávio vor allem der konservative Gouverneur von Sao Paulo, Tarcísio de Freitas, als möglicher Kandidat der brasilianischen Rechten. Er wurde in der Vergangenheit von Bolsonaro unterstützt. Mit dem größten Feindbild der Bolsonaristas, dem Richter Alexandre de Moraes ist er befreundet – und kritisiert ihn trotzdem öffentlich scharf.

Lektion 2: Eine unabhängige Justiz ist wichtiger als eine progressive Regierung

Alexandre de Moraes gilt als der mächtigste Mann Brasiliens. Der 57-Jährige ist Richter am Obersten Gerichtshof Brasiliens und war Vorsitzender des nationalen Wahlgerichts während der Präsidentschaftswahl 2022, bei der Lula da Silva gegen Jair Bolsonaro gewann. Er ordnete die Verhaftung zahlreicher Putschisten an, leitete das Verfahren gegen Bolsonaro, blockierte in der Vergangenheit die Plattform X und die Message-App Telegram in Brasilien und ließ den Ex-Präsidenten Ende November 2025 verhaften, weil er im Hausarrest versucht hatte, seine Fußfessel mit einem Lötkolben zu lösen.

Für die brasilianische Linke ist er zu einer Art Superstar geworden, für die Rechte zum Hassobjekt. Dabei ist de Moraes kein Linker. Aber ein Demokrat. Er wurde vom konservativen damaligen Präsidenten Michel Temer an den Obersten Gerichtshof berufen. Jahrelang war er ein Feindbild der Linken, weil er Demonstrationen auflösen ließ und als „Law and Order“-Mann in Sao Paulo galt.

Doch sobald Jair Bolsonaros Angriff auf Brasiliens Demokratie begann, ging de Moraes – und mit ihm die Mehrheit des Obersten Gerichtshofs – in den Gegenangriff über. Nicht, weil er plötzlich seine Ideologie wechselte. Sondern weil er es als seine Aufgabe sah, Brasiliens Demokratie zu schützen.

2020 ermächtigte ihn das Gericht dazu, digitale, verbale und physische Bedrohungen gegen die demokratische Ordnung Brasiliens zu untersuchen. Seither ließ er zahlreiche Accounts auf sozialen Medien wegen der Verbreitung von Fake News und Verschwörungstheorien sperren. 2021 ordnete er die Verhaftung eines Abgeordneten an, weil er dem Obersten Gerichtshof drohte. Als während der Präsidentschaftswahl 2022 die brasilianische Bundesstraßenpolizei hunderte Straßenkontrollen errichtete, um Lula-Anhänger im Nordosten des Landes vom Wählen abzuhalten, drohte de Moraes dem Polizeichef damit, ihn zu verhaften. Die Washington Post beschreibt seine Methode so: Niemals aufgeben, immer eskalieren. Damit hat er sich bei den Bolsonaristas und ihren Verbündeten so unbeliebt gemacht, dass im Dezember 2022 ein Killerkommando auf ihn wartete. Die US-Regierung wiederum setzte ihn auf eine Sanktionsliste für Schwerverbrecher.

Die Lektion aus Brasilien ist klar: Wenn die Justiz nicht einknickt, sondern konsequent gegen antidemokratische Gefahren vorgeht, hat die Demokratie eine Chance. Ein konservativer, pro-demokratischer Richter am Obersten Gerichtshof ist wichtiger als eine progressive Regierung oder eine starke linke Koalition.

Lektion 3: Wer weiß, wie man mit Trump umgeht, kann ihn ignorieren

Es ist der extremste US-Eingriff in die Innenpolitik einer anderen Demokratie seit Ende des Kalten Krieges: Im Juli 2025 schickte Trump einen wütenden Brief an Brasiliens Präsident Lula da Silva und forderte seine Behörden auf, die Anklage gegen Bolsonaro wegen versuchten Staatsstreichs fallen zu lassen. Dann verhängte Trump Zölle in Höhe von 50 Prozent auf brasilianische Güter wie Kaffee oder Fleisch und setzte Richter Alexandre de Moraes auf eine Sanktionsliste, auf der normalerweise Schwerstverbrecher oder Massenmörder stehen. Es war ein einzigartiger Eingriff in die Souveränität eines demokratischen Landes, um einen Verbündeten vor dem Gefängnis zu bewahren. Doch Brasilien ließ Trump ins Leere laufen.

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Lulas Umfragewerte schossen zwischen Juli und Oktober in die Höhe, weil er Trump in aller Öffentlichkeit die Stirn bot. Aktuell führt er sämtliche Umfragen für die Präsidentschaftswahlen 2026 an. Gleichzeitig zeigte er Verhandlungsbereitschaft und traf sich mit Trump. Während Lula mit dem US-Präsident rumkumpelte, erhöhte das Land seine Exporte nach China, um unabhängiger zu werden von den Exporten in die USA. Die Justiz ließ sich von den US-Drohungen nicht beeinflussen, sie ignorierte sie einfach: „Glaubt irgendjemand, dass ein Tweet eines ausländischen Regierungsbeamten eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs ändern wird?“, fragte Richter Flávio Dino während seiner Urteilsbegründung gegen Ex-Präsident Bolsonaro.

Inzwischen hat die US-Regierung die meisten Zölle deshalb wieder zurückgenommen, genau wie die Sanktionen gegen Alexandre de Moraes. In einer Zeit, in der Trump auch in Europa verbündete Antidemokraten unterstützt, ist die Lektion deutlich: Wer in der Sache klar ist und den richtigen Ton mit Trump findet, muss sich nicht von seinen Drohungen beeindrucken lassen. Der US-Präsident ist sprunghaft, kein Stratege.

Dass Brasilien den Kampf gegen die autoritäre Gefahr vorerst gewonnen hat, bedeutet nicht, dass er vorbei ist. Der Preis, den das Land zahlt, ist hoch, denn der Oberste Gerichtshof hat auch schon fragwürdige Entscheidungen getroffen: 2019 musste eine Zeitung einen Artikel über die möglichen Verbindungen eines Richters in einen Korruptionsskandal aus dem Internet nehmen, auf Anweisung von de Moraes. Er ist inzwischen so mächtig, dass selbst einige Richter:innen Reformen fordern. Die harten Urteile gegen die Putschisten schrecken ab – gleichzeitig haben sie dazu geführt, dass fast die Hälfte der Wählerschaft einen enormen Hass auf das Gericht entwickelt hat und es als parteiisch wahrnimmt.

Wie der Konflikt weitergeht, wird sich 2026 entscheiden. Dann stehen wieder Präsidentschaftswahlen in Brasilien an. Findet sich ein rechter oder konservativer Kandidat, der die Urteile gegen Bolsonaro und seine Verbündete akzeptiert, während er seine Anhängerschaft gleichzeitig hinter sich versammelt, könnte sich die Stimmung im Land beruhigen.

Was dazu möglicherweise beitragen kann: Aktuell gibt es ein Gesetzesverfahren im brasilianischen Kongress, das die Haftzeit Bolsonaros radikal verkürzen könnte. Sollte die aktuelle Regierung das akzeptieren, könnte sie einen Deal daraus machen, um das Land zu befrieden. Eine verkürzte Haftzeit für Bolsonaro, wenn Brasiliens Rechte im Gegenzug einen gemäßigten Kandidaten aufstellt.

Was aber jetzt schon klar ist: Der Westen kann – und muss – von Brasilien lernen, wie eine wehrhafte Demokratie im 21. Jahrhundert funktioniert. Denn was in Brasilien in der Vergangenheit liegt, ist in vielen Ländern Europas möglicherweise die Zukunft.


Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Rebecca Kelber, Bildredaktion: Gabriel Schäfer; Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert

Demokratien können sich wehren! Wie genau, zeigt Brasilien

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