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Im Krieg geht es um Leben und Tod, aber nicht nur auf dem Schlachtfeld.
Es gibt einen Aspekt, der im Russland-Ukraine-Krieg eine wichtige Rolle spielt, aber in der Berichterstattung kaum vorkommt. Ein Aspekt, der die Ukraine noch über Jahrzehnte prägen wird – und möglicherweise dazu beigetragen hat, dass Russland die Ukraine angegriffen hat.
Es geht um Demografie. Also darum, wie viele Kinder geboren werden und wie viele Menschen sterben.
Wer aus dieser Perspektive auf die beiden Länder blickt, versteht noch besser, wie viel für die Ukraine auf dem Spiel steht, warum Russland angegriffen hat – und wieso Russland ukrainische Kinder entführt.
Die Ukraine schrumpft – die größte Bedrohung für das Land nach dem Krieg
2024 starben in der Ukraine rund eine halbe Million Menschen. Das sind drei Mal mehr als geboren wurden. Die Zahl der Geburten sank um 35,5 Prozent im Vergleich zu 2021, also dem Jahr vor dem Großangriff.
Die Bevölkerung in der Ukraine schrumpft also. Auch, weil wegen des Krieges viele das Land verlassen haben. Diese Grafik veranschaulicht das besonders gut:

Die Grafik betrachtet den Unterschied in der Bevölkerung von den Jahren 2022 bis 2023. Die Ukraine hat in dieser Zeit mit Abstand den größten Teil ihrer Bevölkerung verloren.
In den 1990ern Jahren lebten noch mehr als 50 Millionen Menschen in der Ukraine. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen waren es Anfang 2024 nur noch knapp 38 Millionen. Wenn man sich nur die ukrainisch kontrollierten Gebiete anschaut, könnten es sogar nur rund 30 Millionen sein.
Das ist – ich kann es nicht anders ausdrücken – eine demografische Katastrophe. Die ukrainische Zeitung „Kyiv Independent“ schrieb schon 2023, dass die Demografie die größte Bedrohung für die Ukraine nach dem Krieg sei.
Je länger der Krieg dauert, desto unwahrscheinlicher wird es, dass Ukrainer:innen, die in andere Länder geflohen sind, in die Ukraine zurückkehren. Russland bedroht die Ukraine also nicht nur direkt, sondern auch indirekt, indem es dafür sorgt, dass die Ukraine schrumpft.
Umgekehrt wird auf diese Weise deutlich, wie wichtig ein stabiler Frieden für die Ukraine ist. Ein Scheinfrieden oder ein Waffenstillstand ohne Zukunftsperspektive für die Ukraine würde nicht dazu führen, dass Ukrainer:innen zurückkehren oder mehr Kinder bekommen.
Russland hat eine sinkende Geburtenrate – und hat deshalb vielleicht die Ukraine angegriffen
Russland hat Probleme mit der Demografie. Und die sind anscheinend so groß, dass der russische Staat diese Zahlen neuerdings geheim hält.
Über den Sommer hörte die russische Statistikbehörde Rosstat auf, Daten zu Geburten, Todesfällen, Eheschließungen und Scheidungen zu veröffentlichen. Ende Juni weigerte sich die Behörde komplett, die Sterblichkeit für das Jahr 2024 herauszugeben. (Wer sich mehr dafür interessiert und russisch versteht, kann sich dazu dieses Experten-Interview von „Meduza“ durchlesen).
Erstmal ist daran nichts überraschend: Russland hat sinkende Geburtenraten – so wie viele andere Länder auch – und will verheimlichen, welche Folgen der Krieg gegen die Ukraine auch in Russland hat.
Dann habe ich einen ziemlich interessanten Text gelesen. Die Politik- und Rechtswissenschaftler Ivan Krastev und Stephen Holmes argumentieren darin, dass Russlands Demografie dazu beigetragen haben könnte, dass das Land die Ukraine angegriffen hat.
In Russland leben aktuell rund 145 Millionen Menschen. Bis zum Jahr 2100 könnte diese Zahl auf 126 Millionen Menschen schrumpfen.
Wie kann es dann logisch sein, einen Krieg anzufangen, bei dem auch die eigenen Soldaten sterben?
Ganz einfach: Mit der Besetzung von Gebieten steigert Russland seine Bevölkerung. Allein mit der Annexion der Krim erweiterte Russland seine Bevölkerung um rund zweieinhalb Millionen Menschen. Aus dieser Perspektive wird auch klarer, wieso Russland ukrainische Kinder entführt.
Seit dem 24. Februar 2022 hat Russland zehntausende ukrainische Kinder aus den besetzten Gebieten nach Russland gebracht. Der Internationale Strafgerichtshof hat deshalb Haftbefehle gegen Wladimir Putin und die russische Kommissarin für Menschenrechte, Marija Lwowa-Belowa, erlassen.
Natürlich ist Demografie nicht der einzige und entscheidende Faktor, weshalb Wladimir Putin den Befehl zum Angriff auf die Ukraine gegeben hat. Aber alleine dieser Blickwinkel hilft zu verstehen, was Putins Motivation sein könnte.
Redaktion: Rebecca Kelber