Mann mit zwei Kindern auf dem Arm, ein weiteres Kind rennt richtung Baum auf der rechten Seite

Juliane Liebermann/Unsplash

Sinn und Konsum

Nein, es gibt keinen „natürlichen“ Kinderwunsch

Es ist ganz normal, keine Sehnsucht nach einem eigenen Kind zu haben. Und: Das sagt nichts darüber aus, ob man Eltern werden sollte oder nicht.

Profilbild von Theresa Bäuerlein
Reporterin für Sinn und Konsum

Ich habe viele Dinge in meinem Leben geglaubt, die sich hinterher als Unsinn herausgestellt haben. Aber ich dachte noch nie, dass ich eine schlechte Schimpansin sei.

Anders erging es der berühmten Primatologin Sarah Blaffer Hrdy. Als Hrdy ihr erstes Kind bekam, orientierte sie sich an Schimpansenmüttern. „Ich musste in ständigem Kontakt mit meinem Baby sein und sofort reagieren, wenn es weinte oder ein Bedürfnis signalisierte, um sicherzustellen, dass es sich geborgen fühlte“, erzählte sie in einem Interview.

Hrdy liebte ihr Baby über alles. Aber sie stellte fest, dass ihr die totale Hingabe einer Schimpansenmutter nicht lag.

Wie kommt man überhaupt auf die Idee, sich mit Affenmüttern zu vergleichen? Schimpansen haben viele Eigenschaften, an denen man sich im Alltag nicht orientierten sollte. Zum Beispiel lausen sie einander ständig und haben ein für menschliche Maßstäbe sehr fragwürdiges Verhältnis zu ihrem eigenen Kot. Vielleicht vergleichen wir uns beim Thema Kinderkriegen deswegen mit Tieren, weil es kaum ein Thema gibt, bei dem Menschen so sehr auf „Natürlichkeit“ pochen.

In der Natur, so glaubt man wohl, gibt es universelle Gesetze für Mutterschaft – und diese müssen auch für uns Menschen gelten. Besonders deutlich wird das beim Thema Kinderwunsch: Immer wieder habe ich in Studien davon gelesen, dass Menschen glauben, ein Kinderwunsch sei eine Art universeller Instinkt. Das stimmt nicht. „Die Vorstellung eines plötzlich einsetzenden, instinktiven Kinderwunschs ist wissenschaftlich nicht belegt“, sagt die Sozialwissenschaftlerin Claudia Rahnfeld von der Dualen Hochschule Gera. „Empirische Hinweise auf einen rein biologisch gesteuerten, instinktiven Kinderwunsch gibt es nicht.“

Dennoch geht man bei Frauen häufig davon aus, dass der Drang, Mutter zu sein, früher oder später in ihnen einfach erwacht.

Es ist absolut kein Verlass auf den Kinderwunsch

Ich habe das auch mal gedacht. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mir das jemand so beigebracht hat; ich muss das mit der Kultur eingeatmet haben. Und mit mir viele Frauen, mit denen ich in den letzten Jahren geredet habe und die sich mit der Frage plagten, ob sie schwanger werden sollten oder nicht. Wir hofften auf irgendein unmissverständliches inneres Signal, das alle Zweifel beseitigte. Und befürchteten manchmal insgeheim, dass mit uns etwas nicht stimmte, weil dieses Signal nie kam.

Wir hätten uns viel Zeit und Ärger sparen können, wenn uns jemand gesagt hätte: Wer auf den Kinderwunsch wartet, kann lange warten. Manche hatten ihn schon, bevor sie ihren Namen schreiben konnten, bei anderen kommt er später oder nie. Es ist jedenfalls absolut kein Verlass auf ihn. Weil Kinder haben wollen, eben kein universeller Instinkt ist.

Das zu verstehen, kann sehr wichtig sein. Nicht nur, weil es entlastend wirkt – zum Beispiel, wenn man auf einer Geburtstagsfeier herumsteht und eine modische kettenrauchende Mutter um die 60 sagt: „Ah, Sie haben also keine Kinder? Das geht ja gar nicht. GAR NICHT!“ Meiner Kollegin Esther ist das passiert und sie hätte sich fast an einem Smartiekuchen verschluckt.

Mittlerweile hört man solche Sprüche öfter, weil immer mehr rechte Politiker:innen Frauen immer lauter erzählen wollen, was für sie „natürlich“ sein soll. Tatsache ist: Es ist ganz normal, keinen Kinderwunsch zu spüren. Und: Das sagt nichts darüber aus, ob man Eltern werden sollte oder nicht.

Männer stehen nicht bei Samenbanken Schlange

Die Natur ist nicht darauf angewiesen, dass alle Menschen einen Kinderwunsch spüren. Anders als bei Überlebenstrieben wie Hunger oder Durst verspüren viele Menschen diesen Drang nie – und überleben problemlos. Wir „wünschen“ uns kein Essen, wir brauchen es. Niemand stirbt, wenn er kein Kind kriegt.

Was die Natur tatsächlich braucht, ist einfach: Genug Menschen müssen sich fortpflanzen wollen, nicht alle. Und dafür reicht ein grundlegender Sexualtrieb, gepaart mit der Fähigkeit, sich um Nachwuchs zu kümmern.

Würde die Evolution einen universellen Kinderwunsch verlangen, sähen wir Männer bei Samenbanken Schlange stehen und nach dem dritten Date verkünden, dass sie dringend Vater werden wollen. Davon hört man eher selten.

Männern wird eher zugestanden, dass sie von Natur aus keinen Nachwuchs wollen. Bei Frauen ist man skeptisch. Die amerikanische Psychologin Leta Hollingworth hat das schon 1916 beschrieben: „Es gibt zweifellos eine starke und leidenschaftliche Behauptung, dass der ‚mütterliche Instinkt‘ allen Frauen gleichermaßen eigen sei und ihnen ein alles verzehrendes Verlangen nach Mutterschaft verleihe, ungeachtet der damit verbundenen persönlichen Schmerzen, Opfer und Nachteile.“

Dabei zeigt gerade der gesellschaftliche Druck auf Frauen, Mutter zu werden, eine simple Wahrheit: Wäre der Kinderwunsch wirklich instinktiv, bräuchte es weder den gesellschaftlichen Druck auf Frauen noch rechte Politiker, die sich für die Kontrolle weiblicher Körper einsetzen. Dass sie es dennoch tun, verrät: Sie wissen, dass Frauen sich ohne Zwang oft gegen Kinder entscheiden.

Und was ist mit der viel beschworenen biologischen Uhr, die angeblich irgendwann alle Frauen ticken hören? Klar, die Fruchtbarkeit von Frauen hat ein Ablaufdatum, es liegt normalerweise irgendwo in den 40ern. Das Wissen darum kann einen Kinderwunsch auslösen oder verstärken. Wenn abnehmende Fruchtbarkeit diesen Wunsch aber automatisch auslösen würde, müssten Männer die Uhr ebenfalls ticken hören. Auch hier: Davon hört man eher selten.

„Eigentlich seltsam, weil die Spermienqualität bei Männern ab vierzig Jahren sinkt, sodass es deutlich länger dauern kann, bis es zu einer Schwangerschaft kommt, das Risiko für Fehlgeburten und auch das Risiko für seltene, genetisch bedingte Entwicklungsstörungen des Kindes steigt“, schreibt die Journalistin Verena Kleinmann in ihrem Buch „Alle kriegen Kinder – ich zweifele.“

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Wenn der Kinderwunsch auf einmal ganz stark ist

Nicht zu verwechseln mit einem biologisch bedingten Kinderwunsch ist das sogenannte Babyfieber. Der Moment, in dem Menschen plötzlich ganz klar wissen, dass sie ein Kind wollen.

Babyfieber gibt es wirklich. So ging es einer Leser:in, die anonym bleiben möchte. Sie schrieb mir:

„Ich habe einen aus Holz geschnitzten Elefanten geschenkt bekommen, der im Inneren einen kleinen Elefanten trug. Mit meinem Ex-Freund war gerade Schluss gewesen. Ich habe beim Anblick des Elefanten angefangen zu weinen, völlig überraschend für mich selbst. Aber da wusste ich, dass ich mir Kinder wünsche“.

Gary und Sandra Brase, ein Forscher-Ehepaar, fingen an, sich für Babyfieber zu interessieren, als sie ihr zweites Kind bekamen. Sandra Brase spürte deutlich, dass sie danach noch weitere Kinder wollte. Sie wollte wissen, was hinter diesem starken Gefühl steckte. „Ich war neugierig, ob es eine wissenschaftliche Erklärung dafür gibt“, so zitiert sie ein Bericht der Kansas State University. Mit 337 studentischen Teilnehmenden und 853 Personen aus der allgemeinen Bevölkerung erforschten die Brases das Phänomen. Die Teilnehmenden ihrer Studien sollten angeben, wie oft sie Babyfieber verspürten und wodurch es ausgelöst wurde.

Die 2012 veröffentlichten Ergebnisse zeigten: Sowohl Männer als auch Frauen erleben Babyfieber. Und: Die Forschenden fanden drei entscheidende Faktoren, die einen Kinderwunsch auslösen oder bremsen können:

  1. Positive Erfahrungen mit Babys, wie Babys zu halten oder mit ihnen zu kuscheln, verstärken den Wunsch.
  2. Negative Erlebnisse wie schreiende Kinder oder Windeln schwächen ihn ab.
  3. Und schließlich spielen die persönlichen Lebensumstände eine wichtige Rolle – Bildung, Karriere, Geld und soziales Leben.

Das bedeutet nicht, dass alle Menschen, die bestimmte Lebensumstände haben, also zum Beispiel finanzielle Sicherheit, einen Kinderwunsch spüren. Aber die Umstände können den Wunsch verstärken oder bremsen.

Und auch in der Forschung der Brases zeigte sich: Manche Teilnehmenden spürten das Babyfieber nie.

Kinder kriegen ist kein Instinkt, sondern eine Entscheidung.

In einer Umfrage in der KR-Community, an der sich mehr als 800 Leser:innen beteiligt haben, sagte ein Viertel explizit, dass sie nie einen Kinderwunsch hatten. Mehr als vier Prozent sagten, sie hätten zwar Kinder bekommen, aber nie zuvor das Bedürfnis gehabt. Andere spürten den Wunsch, später aber verschwand er wieder.

Gut ein Jahrzehnt nach den Forschungen der Brases wollten zwei Psychologinnen aus den Südstaaten der USA, Katherine Nelson-Coffey und Lisa Cavanaugh wissen, ob sich Babyfieber in Echtzeit verstärken lässt. Für ihre Studie ließen sie über 1.000 junge Erwachsenen zwischen 18 und 35 Bilder von Eltern mit Kindern anschauen. Das Ergebnis: Positive Darstellungen von Eltern-Kind-Momenten verstärkten den Kinderwunsch – und zwar nicht nur im Moment, sondern auch noch drei Tage später.

Kindersehnsucht kann sich also schon durch ein einziges Foto verstärken. Das heißt aber nicht, dass sie ein fest verdrahteter Trieb ist. Wir spüren viele Dinge emotional stark. Fernweh etwa, oder den Drang, eine schöne Jacke zu kaufen, wenn man sie im Schaufenster sieht.

Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen der tiefen Sehnsucht, die man nach einem Kind haben kann, und einem Konsumobjekt. Die Intensität des Gefühls von Babyfieber bedeutet aber nicht, dass der Kinderwunsch ein biologisches Muss ist.

Der Anblick eines Babys löst bei vielen Menschen empathische und hormonelle Reaktionen aus, ähnlich wie jedes starke Gefühl Spuren im Körper hinterlässt. Welche biologischen Mechanismen genau dazugehören, ist aus wissenschaftlicher Sicht derzeit noch unklar. Sicher ist nur: Babyfieber ist kein Befehl der Natur, sondern eine Stimmung, die entsteht, wenn Biologie, Biografie und Umfeld zusammenspielen.

Babyfieber auf Finnisch

Wie verbreitet ist dieses Fieber überhaupt, wenn man ganze Bevölkerungen befragt? In Finnland haben die Demografin Anna Rotkirch und ihr Team genau das getan (auf Finnisch heißt Babyfieber übrigens „vauvakuume“). In einer landesweiten Umfrage baten sie Männer und Frauen, ehrlich Auskunft zu geben: „Haben Sie jemals ein starkes Sehnen nach einem eigenen Kind gespürt?“ Die Antwortmöglichkeiten waren: nie, ein paar Mal, mehrfach.

Das Ergebnis der 2011 veröffentlichten Studie: Etwa die Hälfte der Befragten sagte ja – Männer wie Frauen. Doch während Frauen häufiger berichteten, das Gefühl mehrmals erlebt zu haben, gaben mehr Männer als Frauen an, es nie verspürt zu haben. Manche Männer sagten, sie hätten dieses Verlangen erst empfunden, als sie mit ihrer Partnerin tatsächlich versuchten, ein Kind zu bekommen. Für etwa ein Drittel trat es erst in genau diesem Moment auf – nach dem Beschluss, Eltern werden zu wollen, nicht davor.

Die finnische Studie ist besonders aufschlussreich: Hier wurde in einem Land mit hoher Gleichstellung und stabiler Familienpolitik geforscht – also unter Bedingungen, die eine freie Entscheidung fürs Kinderkriegen besonders gut ermöglichen. Und selbst dort zeigte sich: Der Kinderwunsch ist keine universelle Erfahrung. Er tritt bei manchen Menschen früh auf, bei anderen spät, bei vielen nie. Er hing kaum von Einkommen, Bildung oder Beruf ab. Ein wohlhabender Akademiker konnte ebenso „fieberfrei“ sein wie ein Fabrikarbeiter.

Das wichtigste: Sich nicht unter Druck setzen lassen

Viele Teilnehmende meiner Umfrage verknüpfen den Kinderwunsch direkt mit einer bestimmten Partnerschaft. „Er entstand, als ich den späteren Vater unserer Kinder kennenlernte. Eines Tages dachte ich im Halbschlaf, dass er ein richtig toller Vater sein würde“, schreibt eine Teilnehmerin. KR-Leserin Elisabeth hatte immer ein negatives Gefühl zum Kinderkriegen. Das hat sich gewandelt, als sie mit einer Frau zusammen war, die schon zwei Kinder hatte. „Mit ihr habe ich ein bisschen Familienalltag gehabt, in der Rolle der Verantwortlichen. Das war schön. Und spannend: als sie mir gesagt hat, nein, sie will auf gar keinen Fall noch ein Kind, war mir klar, krass, so gehts nicht. Das hat mich überrascht. Und dann hab ich mich auf das Gefühl eingelassen.“

Manche Leser:innen hatten Kinder immer fest in ihre Zukunft eingeplant, andere entdeckten irgendwann, dass ihnen ihre Freiheit wichtiger war. Wieder andere verloren den Wunsch nach einer Fehlgeburt oder weil ein Partner fehlte.

Ich habe vier Geschwister. Mehr als einmal hat mir meine Mutter gesagt, dass sie als junge Frau keinen Kinderwunsch hatte. Sie wurde trotzdem schwanger, weil das in den 60ern der gesellschaftlichen Norm entsprach, wenn man verheiratet war. Das Babyfieber kam erst später. Und zwar gewaltig. Dafür musste sie aber erst einmal erleben, wie es für sie war, ein Kind zu kriegen.

Was nicht bedeutet, dass jeder Mensch sich in die Elternrolle verliebt, sobald das Baby erst einmal da ist. Manche hadern ihr ganzes Leben damit und bereuen ihre Entscheidung. Wichtig zu verstehen ist, dass ein Kinderwunsch nicht „von Natur aus“ kommt – sondern eine Entscheidung ist.

Claudia Rahnfeld von der Uni Gera sagt: „Es ist legitim, sich Zeit zu nehmen, den eigenen Kinderwunsch zu klären oder bewusst kinderlos zu bleiben.“ Die meisten Menschen, die sich ganz bewusst gegen Kinder entscheiden, seien sich sicher und bleiben dabei. Sie rät, sich nicht von gesellschaftlichen Erwartungen unter Druck setzen zu lassen. „Die Entscheidung muss zu den eigenen Lebensvorstellungen passen.“

Daran ist nichts „unnatürlich“. Das erkannte auch Primatologin Hrdy. Während Schimpansenmütter ihre Kinder fast ausschließlich allein und mit größter Hingabe aufziehen, hat sich der Mensch anders entwickelt: als cooperative breeder, also in Sippen, die ihre Kinder gemeinsam großziehen.


Redaktion: Nina Roßmann, Schlussredaktion: Isolde Ruhdorfer, Bildredaktion: Gabriel Schäfer, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

Nein, es gibt keinen „natürlichen“ Kinderwunsch

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