Erste Hilfe Set, anstatt dem typischen Kreuz-Symbols, mit einem Symbol des Kopfes

Round Icons/Ploegerson/Unsplash

Psyche und Gesundheit

Hilfe, wie helfe ich Menschen mit psychischen Erkrankungen?

Ich lernte in einem Erste-Hilfe-Kurs, wie man Menschen in psychischen Notsituationen hilft. Und welche Fragen man stellen sollte, auch wenn es schwer fällt.

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Manchmal, wenn ich Sven sehe, frage ich mich, ob ich richtig reagiert habe. Damals, als wir spazieren waren und er sagte, dass es ihm nicht gut gehe. Dass er manchmal nicht mehr leben wolle. Habe ich zu erschrocken geschaut? War ich eine Hilfe?

Wenn die Nase blutet, ein Bein gebrochen ist, jemand ohnmächtig wird, ist klar, was zu tun ist. Dann greift man zum Taschentuch, ruft den Notarzt, bringt jemanden in eine stabile Seitenlage. Aber was, wenn kein Körperteil verletzt ist, sondern die Psyche?

25 Jahre ist es her, da dachte Betty Kitchener, es sollte doch genauso üblich sein, dass Menschen mit Suizidgedanken oder Panikattacken schnelle erste Hilfe erhalten, wie solche, die gerade einen Unfall hatten. Aus den Überlegungen wurde ein Projekt, an dem die australische Krankenschwester und ihr Ehemann, der Psychologieprofessor Anthony Jorm, an den Wochenenden arbeiteten und schließlich der „Mental Health First Aid“-Kurs. Kurz MHFA, also Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit.

Es dauerte nochmal 19 Jahre, bis der Kurs von der Erfindung im Jahr 2000 in Australien nach Deutschland kam. In Berlin kann man den MHFA-Kurs seit einigen Jahren kostenlos besuchen. Er soll Menschen wie mir beibringen, was bei Gesprächen wie mit Sven zu tun ist. Wie kann ich psychisch erkrankten Menschen in meinem Umfeld helfen?

Die Statistik sagt: In den kommenden zwölf Monaten wird jede vierte Person in Deutschland an einer psychischen Störung erkranken. Wird jede:r in seinem Umfeld mindestens eine Person kennen, die depressive Phasen durchlebt. Und wird da trotzdem oft große Hilflosigkeit sein.

Mit der Ersten Hilfe bei psychischen Erkrankungen ist es wie mit der Sauerstoffmaske im Flugzeug

Die Stühle mit Tischplatten sind an die Wände gerückt, darüber hängen farbbekleckste Bilder. Ein kleiner Balkon geht von dem Eckzimmer in einen Berliner Hinterhof hinaus. Zwei Tage, jeweils sechs Stunden, geht der Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit von der Gesellschaft für Krisenintervention und Krisenprävention. Zwei Tage, in denen es um Depression, Suizidalität, Angststörungen, Psychosen und Substanzabhängigkeit geht. Um die häufigsten psychischen Störungen.

Sieben Frauen, ein Mann und ich, wollen an diesen zwei Tagen lernen, Menschen mit psychischen Problemen und in Krisen zu helfen. Weil der Kurs in einem geschützten Raum stattfindet, soll hier nur wenig über andere Teilnehmende verraten werden.

Bevor wir starten, erklärt Len-Julian Liebelt, MHFA-Instruktor und Psychologe, die Daumenregel. Wer den Raum verlässt, zeigt an, ob er oder sie das tut, weil sie kurz raus muss für eine Pause oder, weil es ihr schlecht geht. Daumen hoch: Alles gut. Daumen runter: Ich brauche Hilfe. Dann kommt Liebelt nach. An diesen zwei Tagen wird eine Person den Daumen runter zeigen und nicht weiter am Kurs teilnehmen.

Die erste Erkenntnis an diesem Dienstagmorgen im Oktober ist: Mit der Ersten Hilfe bei psychischen Erkrankungen ist es wie mit der Sauerstoffmaske im Flugzeug. Erst muss man sich selbst helfen, die eigene Sicherheit gewährleisten und dann anderen helfen.

Und die zweite: Lieber einen kleinen Schritt machen, als gar nichts zu tun.

Nur kommen psychische Gesundheitsprobleme – auf diesen Begriff einigen wir uns, weil er wertneutral ist – nicht so offensichtlich daher wie körperliche Probleme. Darum ist die große Frage: Wann überhaupt eingreifen? Und wie?

Wenn es um Suizid geht, gibt es viele falsche Annahmen

Vermutlich lässt sich keine der psychischen Störungen, die wir an diesen zwei Tagen besprechen, so schwer feststellen wie die Depression. Dabei sind in Deutschland fast zehn Millionen Menschen depressiv. Einen Rausch kann man an den geweiteten Pupillen, dem Lallen oder Torkeln erkennen. Eine Psychose daran, dass jemand Dinge sieht oder hört, die man selbst nicht sieht oder hört. Aber ab wann ist die bedrückte Stimmung mehr als eine Phase?

Wir lernen, wenn jemand mindestens über zwei Wochen kaum aus dem Bett kommt, Termine absagt, den Job oder die Ausbildung vernachlässigt, dann könnte es eine depressive Störung sein. Depressionen erkennt man nicht nur daran, ob jemand traurig wirkt und sich zurückzieht, sondern auch daran, ob es jemanden schwer fällt, Entscheidungen zu treffen, an Schlafproblemen, wenn sich jemand schlecht konzentrieren kann, plötzlich zu- oder abnimmt. Und daran, ob jemand wütend oder aggressiver ist als sonst. Etwas, das oft übersehen werde, sagt Liebelt, weil die Symptome psychischer Erkrankungen, die sich bei Frauen zeigen bekannter sind. Frauen würden nur selten aggressiv werden, wenn sie in einer depressiven Phase sind.

Wir lernen, wer besonders gefährdet ist, besprechen kurz welche Therapieformen es gibt, welche Medikamente, wer helfen kann, dass Sport nachweislich die Laune hebt. Viel Theorie. Alles zum Nachlesen in einem 258 Seiten dicken Handbuch.

Nichts davon müssen wir bis ins Details wissen. Wichtig sei nur, sagt Liebelt, dass wir uns mit dem Gesundheitssystem auskennen, dass wir wissen, welche Hilfe es gibt, an wen man sich wenden kann und wir Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen unterstützen können, wenn sie sich Hilfe suchen wollen. Viele seien überfordert und damit sei das oft die größte Hürde für sie: zu wissen, wer und was hilft.

„Wie schnell ihr eine depressive Verstimmung erkennt“, sagt Liebelt, „kann beeinflussen, wie schnell eine Person Hilfe bekommt und wie oft sie in ihrem Leben so eine Phase erlebt.“ Wer einmal eine depressive Episode erlebt und keine Hilfe bekommen hat, ist anfälliger für weitere. Und dafür, Suizidgedanken zu entwickeln.

Wenn es um Suizid geht, sagt Liebelt, gibt es viele falsche Annahmen. Falsch ist: Wer darüber spricht, wird es nicht tun. Falsch ist: Wer darüber nachdenkt, ist fest entschlossen. Und falsch ist: Wer darauf angesprochen wird, wird dazu verleitet.

„Danach gefragt zu werden, ist für die allermeisten eine Entlastung“, sagt Liebelt. Weil es der Person die Angst nehme und ihr die Möglichkeit gebe, darüber zu sprechen.

Bei allen psychischen Gesundheitsproblemen sollen wir auf unsere Sprache achten. Wir sollen nicht verurteilen, aber auch nicht verharmlosen. Wir sollen nicht von „Freitod“, „Selbstmord“ oder „erfolgreichem Suizid“ sprechen. Weil beispielsweise Mord eine strafbare, vorsätzliche Tötung ist und der Begriff als moralisch und auch juristisch verurteilend gilt. Dann lernen wir noch Zahlen: Im Schnitt hinterlässt ein Suizid 137 Betroffene. Suizidgedanken sind häufiger, als viele denken. Zehn bis 15 Versuche kommen auf einen Suizid.

Wie helfen? In fünf Schritten

Liebelt zieht einen roten Samtvorhang zur Seite, dahinter ein Aufsteller und darauf die zentrale Antwort auf die Frage: wie helfen?

Das genaue Konzept darf hier nicht verraten werden, weil es einer Lizenz unterliegt. Nur so viel: Fünf Bausteine helfen, die Erste Hilfe zu strukturieren, sich zu überlegen, wie man das Gespräch führt, wie man unterstützt und was man tun kann. Fünf Bausteine also, um sich sicher im Gespräch zu fühlen.

So wie „Stayin’ Alive“ von den Bee Gees der Soundtrack der körperlichen Erste-Hilfe ist und den Takt für Herzdruckmassagen vorgibt, sage ich mir nun diese fünf Bausteine vor, wenn ich psychische Erste Hilfe leisten will.

Dann ist Nachmittag. Zeit für ein Rollenspiel. Um Miriam geht es, eine Frau, die sich verändert hat. Sie hat sich getrennt, ihr Ehrenamt aufgegeben und zu ihrem Sohn gesagt, er sei ohne sie besser dran. So steht es im Übungsheft.

Liebelt setzt sich auf einen Stuhl in der Mitte des Raumes – er spielt Miriam. Wir anderen sollen abwechselnd reden. Was er in seiner Rolle als Miriam sagt, klingt bedrückend. Wir schauen uns an. Stille. Dann traut sich eine junge Frau: „Manche Menschen, denen es schlecht geht, entwickeln Suizidgedanken. Hast du das erlebt?“

„Nein … sowas würde ich nie machen … aber ich habe schon daran gedacht.“

„Und Stopp“, sagt Liebelt.

Wir stehen auf, klopfen uns aus, sind erleichtert, dass es nur ein Rollenspiel war und ein „Nein“ kam.

Liebelt hat uns beigebracht, was wir bei einem „Ja“ fragen sollen: Wie konkret sind die Absichten? Gibt es einen Plan? Hast du dich entschieden, wie und wann du dir das Leben nehmen willst? Und: Hast du dir schon ein mögliches Suizidmittel besorgt? „Keinem fällt es leicht, diese Fragen zu stellen“, sagt Liebelt. Darum sollen wir sie üben, für uns im Stillen. Wenn sich die Person aber bereits selbst gefährdet, sollen wir die 112 rufen.

Es war ungefähr an der Stelle, als der Daumen runterging, eine Person den Raum verließ und nicht wieder kam. Oft passiere das nicht, sagt Liebelt später, als er in dem Büro gleich neben dem Eingang sitzt. Jeder, der hier teilnimmt, werde vorher gefragt, ob er oder sie in der psychischen Verfassung dafür ist. Auch ich setzte bei diesem Feld bei der Anmeldung das Kreuzchen und war doch überrumpelt. Suizid, gleich am ersten Tag?

„Suizid ist ein Symptom vieler psychischer Störungen“, sagt Liebelt. Bei Depressionen, bei Angstzuständen, bei Psychosen. Statt sie immer zu erwähnen und erst am Schluss zu klären, wie man da reagiert, sieht das der Kurs gleich am Anfang vor.

„Wir bilden hier keine Mini-Therapeuten aus“

Am nächsten Tag fehlt die eine Person, dafür ist eine andere dabei, die den zweiten Kurstag nachholt. Es geht um Angststörungen, Psychosen und Substanzmissbrauch.

Ich lerne, wie ich jemandem bei einer Panikattacke helfen kann. Dass ich mit der Person die 5-4-3-2-1-Übung durchspielen soll. Sie fünf Dinge, die sie sieht, nennen lassen soll. Vier, die sie hört. Drei, die sie spürt. Zwei, die sie riecht. Eine, die sie schmeckt. Die Aufmerksamkeit lenkt sich auf das um einen herum und kann die Panik unterbrechen.

Wir sehen einen Film über Psychosen, reden darüber, woran man sie erkennt und Liebelt erzählt von seiner klinischen Erfahrung während seiner Ausbildungszeit. Einmal, sagt er, kam der Notdienst mit einer Frau zu ihnen. Sie hatte an einer Berliner Bushaltestelle gesessen und sich nicht mehr wegbewegt. Sie hatte Angst, eingesaugt zu werden und wollte deshalb nicht unter dem Dach hervor, erzählt er. Also holte der Notdienst einen Regenschirm, klappte ihn auf und sagte der Frau, darunter sei sie sicher. Eine clevere Lösung. Nur verschlimmerte es das Problem. Sie hatten die Sorge der Frau bestätigt.

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Dabei lautet die Regel bei Psychosen, bei Wahnvorstellungen, bei Halluzinationen: Ehrlich sein! Was hilft, sind Sätze wie: „Ich sehe das nicht. Ich höre das nicht“, und: „Aber für dich muss das schrecklich sein.“ Was nicht hilft: eine Angst zu bestätigen oder zu diskutieren.

Durch die Fenster kann man jetzt das Dämmerlicht sehen und Liebelt wiederholt den Satz, den er an den zwei Kurstagen schon so oft gesagt hat: „Wir bilden hier keine Mini-Therapeuten aus.“ Genauso, wie ein Erste-Hilfe-Kurs keine Notfallsanitäter ausbildet. Ich muss keine Wunde vernähen können. Ich muss nur erkennen, dass ein Arzt gebraucht wird. Gleiches gelte bei psychischen Gesundheitsproblemen. Wir sollen erkennen und reagieren, sagt Liebelt. Nicht aber therapieren. Wir sollen einschätzen können, wie es der Person geht – und dann an Expert:innen abgeben und ihnen sagen, was wir wissen.

Am Ende bekommen wir alle das Handbuch, ein Übungsbuch und einen Zettel, beidseitig bedruckt. Darauf Telefonnummern. Wieder merkt man, mit psychischen Erkrankungen ist es kompliziert. Es gibt nicht nur die eine Nummer, die 112. Sondern zig Nummern. Die der Seelsorge, der Suchtberatungsstellen, der Familienberatung. Aber wenn es eine Nummer gibt, die wir immer anrufen können, sind es die regionalen Krisendienste. Die beraten, auch wenn man sich nicht sicher ist, wenn man das Wann eingreifen nicht klar beantworten kann und das Wie helfen auch nicht.

Nach diesen zwei Tagen sind die sieben anderen und ich ausgebildete MHFA-Ersthhelfer:innen. Acht von acht Millionen weltweit. Als ich den Eckraum verlasse, durch den Hinterhof und raus auf die Straße trete und dem Berliner Trubel entgegen spaziere, gehe ich innerlich durch, was ich gelernt habe. Ich teste die zurechtgelegten Sätze in meinem Kopf. Die Fragen, vor denen ich Angst hatte und die jetzt weniger bedrohlich wirken. Wenn mir der Kurs eines gegeben hat, dann ist es Zuversicht: Ich weiß jetzt, dass ich helfen kann – und wie. Und wenn Sven das nächste Mal erzählt, dass es ihm nicht gut geht, werde ich an die fünf Bausteine denken.


Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Gabriel Schäfer

Hilfe, wie helfe ich Menschen mit psychischen Erkrankungen?

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