Eben habe ich noch am Empfang des Neuropsychiatrischen Zentrums in Hamburg gescherzt. Dass ich ja so einiges habe, aber das bestimmt nicht, dieses ADHS.
So sicher, wie ich tue, bin ich mir aber doch nicht. Weil ich vergesslich, verpeilt und allgemein eher hochtourig bin. Weil ich mit dem Suchen von verlorenen Portemonnaies und Schlüsseln sicher schon ganze Monate an Lebenszeit verplempert habe. Verlasse ich den Schreibtisch für eine kurze Trinkpause, verliere ich mich grundsätzlich auf dem Weg in anderen Tätigkeiten und falle in Rabbit Holes auf Instagram, komme dann eine dreiviertel Stunde später ohne Wasser, aber mit sieben neuen Baustellen im Kopf zu meiner eigentlichen Tätigkeit zurück. Ich verdaddel mich oft im Chaos der offenen Tabs in meinem Kopf.
Aber: Tun wir das nicht alle?
Lange dachte ich, ADHS sei sowas wie ein Trend, eine Zeitgeisterscheinung. Überall wird darüber geredet. In Podcasts, in Instagram-Stories, in TikTok-Clips, die in Sekunden mehr oder weniger fundiert erklären, wie das Leben mit ADHS so ist: oft lustig-verpeilt, charmant-chaotisch, alles sehr relatable. Diese Form der Inszenierung war mir immer suspekt. Sie kam mir vor wie eine Lifestyle-Zuschreibung und eine Ausrede für alles, was nicht ganz rund läuft: Unordnung, Prokrastination, Overthinking.
Aufmerksamkeit nicht ganz geil? Reicht nicht
Schließlich wird unsere Aufmerksamkeit mit hunderten Contentschnipseln pro Minute, ständiger Erreichbarkeit auf allen Kanälen und Multitasking im Job zunehmend filetiert. „Das liegt an meiner ADHS“ ist heute ein oft gehörter Halbsatz, der vielleicht ein Zugehörigkeitsgefühl schaffen und etwas vom Druck nehmen soll, den wir alle spüren, der aber die eigentliche Störung verwässert. Ein Widerspruch, den auch Dr. Peter Tonn, den ärztlichen Leiter und Geschäftsführer des Neuropsychiatrischen Zentrums, umtreibt. „Nur weil man ein Buch gelesen oder einen Insta-Post gesehen hat und denkt, die eigene Aufmerksamkeit ist auch nicht ganz geil, heißt das ja längst nicht, dass man das auch hat.“
Ich will es endlich genau wissen. Also bin ich jetzt hier im Neuropsychiatrischen Zentrum, um eine ADHS bei mir auszuschließen. Internet-Fragebogen, Bluttest oder gar Selbstdiagnose reichen nicht aus. Schwitzend und mit pochender Halsschlagader sitze ich im Behandlungsraum. Unter dem sehr wachen Blick der Psychologin und ihrer Handy-Uhr versuche ich, Rechenaufgaben im Kopf zu lösen, mir Zahlen-Buchstabenkombinationen zu merken und hastig ein vorgegebenes Muster mit bunten Pins nachzustecken.
Ich habe immer mehr das Gefühl, eine unfertige Person zu sein
Hier im NPZ testet man seit 20 Jahren. Die meisten gesetzlichen Kassen übernehmen hier nur 55 Euro, was gerade einmal das Vorgespräch abdeckt.
Im NPZ bleiben dann 524 Euro an Selbstkosten. Laut Dr. Peter Tonn, dem ärztlichen Leiter und Geschäftsführer des Neuropsychiatrischen Zentrums, kamen 2010 noch etwa fünf erwachsene Patient:innen im Monat. Heute gibt es einen regelrechten Tsunami an Testungswilligen. Wie sehr die alle leiden, kann man nicht sagen: „Viele wollen einfach nur ‚das Label‘ und gehen damit selig nach Hause“, erklärt er. „Andere hoffen, dass eine Diagnose erklärt, warum sie ihr Leben lang anecken. Die wollen was tun und an sich arbeiten, etwa mit Medikation oder einer Gruppentherapie.“ Einziges Indiz für eine Behandlung ist der persönliche Leidensdruck.
Den gibt es bei mir. Mehr, als mir lieb ist. Weshalb ich diesen Text unter Pseudonym schreibe, weil nicht jeder in meinem Leben wissen muss, wie tief mich das betrifft.
Auf Kurzstrecke konnte ich mich zwar immer hervorragend konzentrieren, Deadlines finde ich leider geil, da sie mich zu Höchstleistungen antreiben (auch wenn ich sie oft reiße, wie natürlich auch bei diesem Text). Deshalb hielt ich meine Sprunghaftigkeit und Ablenkbarkeit bisher nie für ein ernsthaftes Problem. Auch, weil sie mir auf der anderen Seite Kreativität, ein riesiges Netzwerk und ständig Aufregung bescherten.
Zudem bin ich ja kein Herzchirurg oder Fluglotse geworden. Mein Chaos im Kopf hat oft auch was Gutes und ist in anderen Momenten aushaltbar beziehungsweise nicht lebensbedrohlich für mich oder andere.
Und doch hat sich in letzter Zeit etwas verschoben. Ich werde immer vergesslicher, aufgekratzter und nehme mir auch mit zunehmendem Alter kleinste Kleinigkeiten sehr zu Herzen. Schiebe ganze Tage Panik, weil Kurznachrichten nicht gleich oder „komisch“ beantwortet werden. Ich bin ständig von mir selbst abgelenkt und mein Lebensgefühl ist auch jetzt noch oft das eines verwirrten und trotzigen Teenagers. Auch das ist streckenweise okay, es muss ja nicht jeder mit 30 verheiratet sein und in die Doppelhaushälfte. Aber ich bin Mitte 40 und habe mehr und mehr das Gefühl, eine unfertige Person zu sein, anstatt mich weiterzuentwickeln. Eine, die immer noch die gleichen Fehler macht, die Herz und Verstand in desaströsen Kurzzeitbeziehungen verliert, die immer Drama, Konflikte, Dringlichkeit „braucht“.
ADHS ja gut, aber was hat das mit mir zu tun?
Werden heute verhaltensauffällige Kinder immer öfter standardmäßig in der Schule getestet, hörte ich von ADHS und Ritalin erst mit Anfang 20 im Studium. Aber schon in meinem Grundschulzeugnis stand: „… lenkt andere gern ab und lässt sich leicht ablenken“. Das zitierte ich im Laufe meines Erwachsenenlebens oft und auch ein bisschen kokett. Als wäre quirky das neue cool. Schule war für mich schließlich ab Tag 1 in Klasse 1 eine Tortur. Zwar war ich ehrgeizig, aber dass ich mit einigermaßen guten Noten und ohne Extrarunden durchkam, ist mir immer ein Rätsel gewesen.
Der Test im NPZ ist Teil einer Diagnostik nach ICD-10 und DSM-5 – internationalen Standards, die Hinweise auf verschiedene neuropsychologische Funktionsbereiche liefern. Geprüft werden unter anderem Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis, Verarbeitungsgeschwindigkeit, kognitive Flexibilität, Exekutivfunktionen (sozusagen die Chefetage im Hirn, die für Ziele, Pläne oder Steuerung des Verhaltens zuständig ist) sowie Daueraufmerksamkeit.
Eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS – oder auch AD(H)S, wenn der oder die Betroffene nicht auffallend hibbelig ist – soll ja nicht einfach „gefühlt“ oder vermutet werden, sondern nachgewiesen.
Sie gilt nicht als psychische Krankheit, sondern als Entwicklungsbesonderheit des Gehirns, das anders arbeitet, als es dem gesellschaftlich definierten „Norm-Standard“ entspricht.
Wie Autismus, Dyslexie oder Tourette zählt ADHS zur Neurodivergenz – einem Begriff, der keine Krankheit beschreibt, sondern eine Variante menschlicher Funktionsweise mit eigenen Herausforderungen, Problemen und Stärken. Das Hauptmerkmal: mangelnde Aufmerksamkeit und Schwierigkeiten, den Fokus zu halten.
Zerbeulter Sportwagen statt schaukelnder Volvo
Viele trügen ihre Neurodiversität vor sich her wie eine Fackel, sie werde zu einer alles erklärenden Identitäts-Schablone, meint Dr. Tonn. „Das wird aber denjenigen nicht gerecht, die wirklich leiden und Hilfe brauchen.“ Es gäbe Menschen mit deutlicher ADHS, die dadurch keine großen Probleme hätten. Etwa weil sie wie ich in kreativen Jobs arbeiten, wo Unangepasstheit eher als schillernd, nicht störend wahrgenommen wird. Daneben gibt es aber auch die mit milder Symptomatik, die täglich an ihre Grenzen geraten, weil sie einfach nicht pünktlich sein könnten, an leichten Anforderungen im Job scheitern und deshalb abgemahnt werden.
Leide ich darunter, wie mein Gehirn funktioniert? Ja. Nicht erst seit gestern. Aber dafür gab ich immer meinen Eltern die Schuld oder tatsächlichen und vermuteten Traumata. Klar ist, ich habe mich schon viel selbst sabotiert in meinem Leben. Ich stürze mich in Projekte und lasse sie fallen, sobald sie anstrengend werden. Die freie Mitarbeit bei einem großen Magazin nach dem Studium – abgelehnt mit „erstmal reisen, dann mal sehen“ und dann weder gereist noch gesehen. Die Bewerbungen für Jobs und Stipendien, an denen ich wochenlang feilte, um sie am letzten Tag doch nicht abzuschicken. Und all die Menschen, die ich gehen ließ, weil ich mich nicht für sie entscheiden konnte.
Ich habe deshalb schon sehr viele Therapien gemacht. Die zwar Erkenntnisse mit sich brachten, mir vieles erklärten, aber mich bei allem Respekt nicht ruhiger oder emotional stabiler werden ließen. Entweder hatte ich nach einer vermeintlich bahnbrechenden Sitzung bis zur nächsten Stunde alles wieder vergessen oder verstand erst gar nicht, was die Person gegenüber eigentlich genau meinte. Die Frage, die ich mir am Ende einer Therapie fast noch deutlicher als am Anfang stellte, war: Was zur Hölle stimmte denn nicht mit mir?!
Ein Therapeut sagte mal ermunternd, ich sei halt eher so ein zerbeulter Sportwagen und kein gemütlich schaukelnder Volvo. Das sei aber ja auch aufregender. Den letzten fragte ich einmal, ob ich vielleicht ADHS haben könnte. Er sagte: „Ach, jetzt grübeln Sie wieder so viel.“ Damit war das Thema mehr oder weniger vom Tisch. Für mich nicht.
Mein Hirn brummt, piept, geht an und wieder aus
Um eine AHDS fundiert nachzuweisen, braucht es immer eine klinische Gesamtbewertung: Anamnese seit der Kindheit, Fremd- und Selbstbeurteilungen, Messung der Hirnströme und Blutabnahme, strukturierte Interviews und Tests, und das Ausschließen anderer Ursachen, wie Depressionen, Traumafolgen oder Persönlichkeitsstörungen. Entscheidend ist nicht nur, ob Symptome wie Unaufmerksamkeit oder Impulsivität vorliegen, sondern wie stark sie das Leben im Job, in Beziehungen oder im Alltag beeinträchtigen.
In der Tat geht der Test in die Vollen. Wie schriftliches Abi und Theorie-Prüfung vom Führerschein an einem Tag. Im Vorfeld hatte ich bereits Fremdbeurteilungen von Freund:innen zu etwa meiner Konzentration, Lebensführung oder Fahrigkeit eingeholt – in Form von ausführlichen Fragebögen. Krampfhaft versuche ich jetzt, sämtliche Außenreize wegzudrücken. Mühe mich unter Zeitdruck und Beobachtung, jeden Funken geistiger Klarheit abzurufen. Ich fühle mich schlagartig in meine sehr strapaziöse Schulzeit zurückversetzt. Die Blackouts beim Gedichte-Aufsagen, das Scheitern beim Lük-Kasten, die stete Angst, einfach strunzdumm zu sein.
Es folgt ein Endlos-Stapel an Fragebögen. Es geht um Auffälligkeiten in meiner Kindheit, im Erwachsenenalter, Persönlichkeitsmerkmalen … Dabei kann ich mir zwar mehr Zeit lassen, gerate aber emotional unter Stress, weil ich mich von den vielen Fragen umzingelt und ertappt fühle: War ich als Kind Zappelphilipp oder Tagträumer? Gehen mir oft Sachen kaputt, auch von anderen? Wie wasserdicht ist mein Selbstkonzept? Ist mein Sexleben erfüllend oder suchtgefährdet? Wann wurde aus „bisschen chaotisch“ ein echtes Problem?
Mein Hirn jedenfalls reagiert gerade ähnlich wie die schrottige Bluetooth-Box zuhause: Es brummt, piept, geht an und wieder aus, sucht ständig neue Verbindungen und zwischendurch einfach nur das große Rauschen. Nachdem mir noch Blut abgenommen und ein EEG gemacht wurde, lasse ich mich nach insgesamt fünf Stunden kognitiv völlig durchgenudelt auf mein Bett fallen. Bevor ich erschöpft wegnicke, denke ich noch: Ganz schön viel Aufwand, um am Ende offiziell sagen zu können, dass ich ein bisschen schusselig bin.
Kann man das reparieren?
Bis ich die Diagnose bekomme, dauert es vier Wochen. In denen ich mich sehr genau beobachte. Ich möchte immer noch glauben, dass ich einfach nur verpeilt und sehr emotional bin. Warum eigentlich? Vielleicht habe ich vor dem Stempel ADHS Angst, dass es dann „für immer“ ist, während eine psychische Eigenart sich ja vielleicht doch noch „wegreparieren“ ließe, wenn ich nur die richtige Therapie finde…
Etwa 20 Prozent der Getesteten gehen in der Tat mit einer Negativdiagnose nach Hause. „Von denen lassen sich dann aber nicht wenige noch ein- bis mehrmals woanders testen“, meinte Dr. Tonn noch. „Beim dritten Versuch haben sie es dann“, sagte er trocken, „weil sie inzwischen wissen, wie man die Fragen beantwortet.“ Denen würde er gern sagen: Es nicht zu haben, ist ja auch nicht schlimm.
Neben den drei Kernsymptomen wie Aufmerksamkeitsproblemen, gesteigerter Impulsivität und bei vielen auch äußerer und/oder innerer Unruhe bringt ADHS oft eine bunte Tüte an Begleitsymptomen mit. Die sind mal mehr, mal weniger ausgeprägt. Nicht jede:r hat sie alle oder immer gleich stark. Neben den hohen Wartezeiten bei vergleichsweise wenig Testzentren erschwert das vielen Menschen den Weg zur Diagnose.
Aktuellen Prävalenzschätzungen zufolge sind in Deutschland laut dem Bundesverband ADHS Deutschland e.V. ca. 5 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren betroffen, wobei die Erkrankung bei Jungen immer noch etwa viermal häufiger diagnostiziert wird als bei Mädchen. Etwa bei 10–30 Prozent von ADHS-Kindern (manche Quellen gehen sogar von bis zu 50 Prozent aus), persistiert die Störung. Also wächst sie mit, stellt dann das Erwachsenenleben auf den Kopf. 2,5 bis 4,7 Prozent der Erwachsenen haben geschätzt ADHS. Klingt erstmal wenig, sind aber etwa 1,75 bis 3,3 Millionen Menschen.
Übrigens: Laut des US-Psychologen Stephen Faraone, der seit 30 Jahren ADHS erforscht, ist sie zu 80 Prozent genetisch bedingt.
„Oh“, sagt der Arzt
Und dann sitze ich wieder vor Dr. Tonn. Der erstmal die Stirn beim Blick auf meine Ergebnisse verzieht. „Oh“, sagt er und lehnt sich ein Stück zurück, dann wieder vor. Er schaut auf den Bildschirm, scrollt, blickt über den Rand seiner Lesebrille. Scrollt weiter, schier endlos. Kurzes Innehalten. Ich beobachte seine Augen, seine Brauen, seine Mausklicks. Die Zeit in der Praxis ist eingefroren. Er lehnt sich nochmal zurück, schaut mich an. „Kein Zweifel: Sie haben ADHS“, sagt er dann. „Und zwar nicht nur leicht, sondern ziemlich ausgeprägt. Diplom, aber magna cum laude.“ Ich lächle schief, blinzle. „Hä?!“, ist alles, was aus mir rauskommt. Mir wird heiß, mein Gesicht tut irgendwas Unklar-Deeskalierendes. Dann schießen mir Tränen in die Augen. Und nicht, weil ich was gegen Humor im Behandlungszimmer habe.
Weil ich es selbst lese: „Sehr starke Auffälligkeiten“ in den Punkten Unaufmerksamkeit, Impulsivität, emotionaler Labilität, Selbstwertproblemen. Schwierigkeiten, die Zeit einzuschätzen, mich zu steuern, nicht auszuflippen, wenn mich etwas nervt. Kindheitssymptome, die so deutlich sind, dass an der Chronizität kein Zweifel bleibt. Bestätigungen aus meinem Umfeld, die meine Testergebnisse untermauern. Da steht, was ich insgeheim fürchtete, aber immer wegklickte: dass ich offenbar eine explosive Mischung aus innerlich enorm unruhig, hyperkreativ und hoch desorganisiert bin.
Ich kenne ja nur mich. Ich dachte immer: So bin ich halt. Das war für mich Normalzustand.
Was mich richtig schockt: Dass in einigen Punkten 90–95 Prozent der Menschen, die den Test machten, besser abschnitten als ich (also „weniger“ Anteile einer ADHS haben). Dass andere mit meinen Werten nicht mal Auto fahren könnten. Und ich stolpere über den Teil, der mich mehr erschüttert als die vier Buchstaben selbst. Unter „Persönlichkeitsmerkmale“: Bereich Antagonismus – auffällig. Das deutet darauf hin, dass ich eine Neigung habe, zu manipulieren, unehrlich zu sein, um Vorteile zu erzielen und allgemein zu Grandiosität neige. Und in Klammern steht da: „über dem Normwert“, Tendenz in Richtung narzisstischer Ausprägung.
Ich möchte schlagartig geblitzdingst werden oder einen Schlag auf den Kopf. Denn manches von dem hätte ich lieber nicht gewusst. Wie soll man das noch als kleine Eigenheit abtun?
Dr. Tonn sagt, das sei kein Narzissmus-Stempel, sondern halt nur eine Tendenz. Viele Menschen mit ADHS würden eben zwischen radikalen Selbstzweifeln und Überkompensation schwanken. Wenn man jahrelang hört, dass man nicht „funktioniert“, kann ein aufgepumptes Selbstbild zum Schutz werden. So nach dem Motto: „Die checken dich alle gar nicht, aber du bist eigentlich von allen der Geilste.“
Ich habe als Kind wohl nicht nur ein wenig vom Löffelchen aus der ADHS-Flasche genascht. Nein, ich habe wohl mit vollem Anlauf eine Arschbombe in den Kessel gemacht. „Man kann sich bei diesen Ergebnissen schon eine Biografie mit enormem Leidensdruck vorstellen“, sagt Dr. Tonn. „Sie sind in der zweiten Lebenshälfte, da muss man sich schon fragen, warum sie erst jetzt kommen.“
Wie so oft hatte ich auch bei ADHS das Kleingedruckte nie gelesen. Und immer gedacht, sie beschränke sich auf Chaos, Verpeiltheit, Reizoffenheit. Nicht, dass mit ihr auch Depressionen einhergehen können oder in ihr Momente stecken können, in denen man sich größer, wichtiger, klüger wähnt, als man ist.
Viele Menschen mit ADHS glänzen in der Schule und im Beruf
Warum ich mir selbst so lange was vormachen konnte: Ich bin vermutlich ein sehr guter Maskierer. „Masking“ bedeutet, dass man permanent damit befasst ist, „normal“ zu wirken, etwa Schwächen mit Perfektionismus, Fleiß, Charme oder Humor auszubügeln. Oft kann man seine Schwierigkeiten im Alltag so gut verstecken, dass sie nicht mal einem selbst auffallen, geschweige denn dem Umfeld. Man wirkt nach außen supersouverän während man innerlich permanent am Limit arbeitet. Gerade Frauen und Mädchen nutzen häufig diese unbewusste Strategie, um nicht aufzufallen: Sie verbergen ihre eigenen Bedürfnisse, Reaktionen und neurodivergenten Merkmale, um in sozialen Situationen möglichst „unauffällig“ zu sein. Auch deshalb wird ADHS nach wie vor bei Jungen immer noch so viel häufiger festgestellt, als bei Mädchen.
Mit dem „Masking“ ist auch zu erklären, dass viele Menschen mit ADHS in der Schule und im Beruf glänzen. Viele finden deshalb erst spät oder sehr spät heraus – so wie ich – dass diese ständige Anspannung keine „Persönlichkeitseigenheit“ ist, sondern ein Überlebensmodus.
Mein Kopf rast und ich habe hundert neue Fragen. Die wir nicht alle jetzt klären können. „Lassen Sie das bis zum nächsten Termin erstmal sacken“, sagt Dr. Tonn. Und empfiehlt mir auch ein Beratungsgespräch in der BTM-Sprechstunde. „BTM?“ – „Betäubungsmittel.“ Gutes Stichwort. Ich hätte jetzt lieber einen Joint oder drei Schnäpse.
Oft würden die Probleme schon mit der ersten Tablette deutlich besser. Er empfiehlt, mir das gut zu überlegen, es auszuprobieren. Kann vielleicht Elvanse, ein Medikament auf Amphetaminbasis, mir helfen? Alles leichter machen? Die Aussicht, ab jetzt für immer Pillen zu schlucken, ist ein weiterer Schocker. Ich wanke wie benommen aus der Praxis.
Auf dem Weg nach Hause sage ich mir mehrmals hintereinander, dass das jetzt ja keine Krebsdiagnose war. Sondern, dass nur ein Wort für das gefunden wurde, was mich seit Jahrzehnten umtreibt. Dass alles, diese ständige Rastlosigkeit, die Fomo, die Selbstsabotage, die Ängste und Unsicherheiten, der ständige Druck, dass all das vielleicht in Zukunft leichter wird. Dass das jetzt eine Chance ist. Ein Neuanfang?
Chaos im Kopf, jetzt erst recht
Die nächsten Tage sind wie eine Achterbahnfahrt. Kurz bin ich euphorisch und sehe meine Zukunft in fröhlich und vor allem: in absoluter Klarheit vor mir. Dann heule ich Rotz und Wasser, weil ich mich frage, was zur Hölle ich eigentlich die letzten Jahrzehnte so gemacht habe. Was wäre aus all den Ideen geworden, die ich hatte, den losen Enden, die ich nie zusammenfügen konnte, wenn ich das eher gewusst hätte? Hätte ich auch einer von diesen Erfolgsmenschen sein können, die ihren Fokus ohne große Mühe über den ganzen Tag halten können und das jeden Tag?
Die Drastik der Diagnose haut mich um. Und dann denke ich: Ist der Test überhaupt aussagekräftig? Gültig? Ist ADHS am Ende nicht einfach eine große Einbildung? Ich heule weiter, grüble, denke viel an meine Mutter. Die ich wegen ihrer Hektik und Dünnhäutigkeit immer als „leicht hysterischen Persönlichkeitstyp“ bezeichnet hatte. Dann sehe ich sie mit ganz anderen Augen. Wenn ich ADHS habe, hat sie es aber dreimal! Nur war sie viel zu früh geboren, als dass es jemand hätte diagnostizieren können. Das bricht mir fast das Herz. Aber ich habe schlagartig auch sehr viel mehr Verständnis für sie.
In der nächsten Phase bin ich wieder fröhlich und zuversichtlich, stelle mir vor, was in Zukunft alles möglich sein könnte. Lerne ich bald mein ganz neues Ich kennen? Werde ich womöglich sowas wie Routinen in mein Leben fügen? Mich endlich richtig gut fokussieren können? Nachhaltig verlieben? Oder bleibt im Großen und Ganzen alles, wie es ist, nur dass ich vielleicht durch die Diagnose milder werde, auch mit mir selbst? Zu all den Fragen, Ängsten und Hoffnungen kommt die große Sorge, dass ich durch ein Medikament langweiliger, unkreativer und mehr oder weniger lahmgelegt werde, mir alles fad und grau wird.
Was ich in diesem ganzen Wirrwarr fast vergesse und was mich auf „diese ADHS“ auch bald etwas versöhnlicher blicken lässt: Dass ich trotzdem so vieles geschafft habe. Dass mein Leben zwar nie ein gut sortierter Aktenordner war, sondern eher eine chaotische Schublade, ich aber immer gefunden habe, was ich brauche. Vier Wochen nach der Diagnose habe ich immer noch viel mehr Fragen als Antworten im Kopf. Ich versuche mir zu sagen, dass jetzt eine Transition angestoßen wurde. Eine Chance zur Neu-Ausrichtung. Die nun mal Zeit und Geduld braucht.
Und dann sitze ich wieder im NPZ. Für die Betäubungsmittel-Sprechstunde. Ob ich hier neue Antworten finde, weiß ich nicht. Aber ich werde das mit den Medikamenten mal ausprobieren. Was ich mich auch noch frage: ob ich statt des zerbeulten Sportwagens überhaupt ein Volvo sein möchte.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Rebecca Kelber, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert