Man sieht mehrere junge Menschen in Uniform, die in einer Reihe stehen.

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Politik und Macht

Wehrpflicht – Ja oder Nein? Das ist die falsche Frage

Die meisten Argumente zum Wehrdienst gehen am Thema vorbei. Fünf Fakten, die in der Diskussion untergehen.

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„Wir wollen nicht ein halbes Jahr unseres Lebens in Kasernen eingesperrt sein, zu Drill und Gehorsam erzogen werden und töten lernen.“ So steht es auf der Website des Bündnisses „Schulstreik gegen Wehrpflicht“. Das Bündnis hat für Freitag zu landesweiten Schulstreiks aufgerufen, am gleichen Tag soll im Bundestag das Gesetz über den neuen Wehrdienst verabschiedet werden.

Ab dem kommenden Jahr sollen alle 18-jährigen Männer und Frauen einen Fragebogen zugeschickt bekommen, in dem ihre „Motivation und Eignung für den Dienst in den Streitkräften“ abgefragt wird. Männer müssen den Fragebogen ausfüllen, Frauen dürfen. Zusätzlich werden alle Männer gemustert, die ab dem 1. Januar 2008 geboren wurden.

Ziel ist, dass die Bundeswehr mehr Personal bekommt. Bis 2035 sollen 260.000 Männer und Frauen in der Truppe sein, also 80.000 mehr als jetzt. Zusätzlich soll die Zahl von derzeit 60.000 Reservist:innen auf 200.000 ansteigen. Diese Ziele will die Bundeswehr erstmal durch Freiwillige erreichen. Wenn das nicht klappt, will die Regierung ein Gesetz über die „Bedarfswehrpflicht“ verabschieden. Das würde bedeuten, dass die fehlenden Wehrdienstleistenden über ein Zufallsverfahren ausgewählt werden.

Es gibt gute Gründe für und gegen einen Wehrdienst. Dieser Text soll dich weder von der einen noch von der anderen Seite überzeugen. Meinungsbeiträge und emotionale Argumente gibt es in dieser Debatte schon genug. Ein paar wichtige Tatsachen gehen dabei aber verloren.

Punkt 1: Es sind überraschend viele Menschen für eine Wehrpflicht

30 Prozent der 12- bis 18-Jährigen finden, es sollte eine Verpflichtung geben, einen Wehrdienst in der Bundeswehr zu leisten. Das ergab eine Ipsos-Studie im Auftrag der Liz-Mohn-Stiftung von Juni 2025.

Dieses Ergebnis kann von zwei Seiten betrachtet werden. Man kann sagen: Zwei Drittel der Jugendlichen sind gegen die Wehrpflicht. Man kann es aber auch anders sehen: Fast ein Drittel sind dafür. Ich finde das erstaunlich viel, vor allem, weil es hier um die Bevölkerungsgruppe geht, die davon direkt betroffen wäre. Übrigens war die Mehrheit der befragten Jugendlichen, nämlich 53 Prozent, der Meinung, es sollte einen frei wählbaren Pflichtdienst in Deutschland geben.

Es stimmt natürlich, dass Ältere eher für eine Wehrpflicht sind als Jüngere. In einer Ipsos-Umfrage von Juli 2025 sprachen sich 72 Prozent der 60- bis 75-Jährigen für eine Wehrpflicht aus, aber nur 52 Prozent der 18- bis 39-Jährigen. Über alle Altersgruppen gerechnet sind 62 Prozent für eine Wehrpflicht.

Wenn ich die öffentliche Debatte über die Wehrpflicht verfolge, bekomme ich manchmal den Eindruck, dass die Bundesregierung etwas zutiefst Unbeliebtes durchdrücken will, gegen den Willen der breiten Bevölkerung. Diese Umfrageergebnisse zeigen allerdings: So einfach ist es nicht. Es sind zwar viele dagegen. Aber es sind auch recht viele dafür.

Punkt 2: Es gibt immer noch ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung

Gegner:innen einer Wehrpflicht argumentieren oft mit zugespitzten Aussagen. Der Politik-Influencer Simon David Dreßler legte zum Beispiel in einem Tiktok-Video nahe, Deutschland sei schon so militarisiert und unfrei wie Russland. Und Ines Schwerdtner, Co-Vorsitzende der Linken, sagte: „Keine jungen Menschen sollen in den Krieg ziehen müssen.“

Das sahen die Mütter und Väter des Grundgesetzes genauso. Deshalb ist dort festgehalten, dass man den Kriegsdienst verweigern kann. Die Juristin Kathrin Groh schreibt im Verfassungsblog, Deutschland habe damit „eine selbst für demokratische Rechtsstaaten außergewöhnlich starke Exit-Option für die Wehrpflichtigen geschaffen.“

Das bedeutet, selbst wenn sich nicht genug Freiwillige für den Wehrdienst finden, wenn dann die Regierung beschließt, ein Losverfahren einzuführen und ein junger Mann befürchtet, gegen seinen Willen ausgelost zu werden, könnte er immer noch einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung stellen.

Es ist wirklich wichtig, hier präzise zu sein. Der Staat kann niemanden dazu zwingen, auf jemanden zu schießen. Das steht im Grundgesetz und Details sind im – Achtung, langes Wort – Kriegsdienstverweigerungsgesetz geregelt. Viel relevanter ist, wie schwierig dieser Prozess wird. Da sich Verweigerer auf ihr Gewissen berufen müssen, gibt es einen Interpretationsspielraum. Im Laufe der (west)deutschen Geschichte mussten Männer unterschiedlich viel Aufwand betreiben, um zu verweigern.

Punkt 3: Mehr Leute, schön und gut. Aber die müssen ja vernünftig ausgebildet werden

Mehr Menschen allein lösen die Probleme der Bundeswehr nicht. Es braucht auch Ausbilder:innen, Kasernen, Waffen und Munition. Schließlich sollen die Wehrdienstleistenden nicht herumsitzen, sondern etwas lernen und in ihrer Zeit bei der Bundeswehr nicht vergrault werden.

Der langjährige Heereschef Alfons Mais sagte zu seinem Dienstende ein paar interessante Sachen: Beim Material gebe es inzwischen genug Geld, aber bei anderen Kategorien wie Infrastruktur und Personal, tue man sich mit radikalen Maßnahmen schwer. „Masse ist wichtig, um Abschreckung zu realisieren.“ Damit meinte Mais die zusätzlichen Soldat:innen. Er sagte aber auch, dass reine Quantität nicht reiche, es gehe auch um Qualität bei Technologie und Ausbildung.

Nach Angaben der Bundeswehr bricht ein Viertel der Soldat:innen innerhalb der ersten sechs Monate die Dienstzeit ab. Ein Viertel! Und das sind schon die Menschen, die sich aus reiner Eigenmotivation bei der Bundeswehr beworben haben.

Auf breiter gesellschaftlicher Ebene wird sehr wenig über diese konkrete Frage diskutiert: Wie muss sich der schwerfällige Apparat Bundeswehr verändern, um mehr Menschen vernünftig ausbilden zu können?

Punkt 4: Es gibt Leute, die Bock haben zu dienen – aber die Bundeswehr macht es ihnen schwer

Auch wenn es für manche unvorstellbar ist, mit Schlafmangel durch den Matsch zu robben, Panzer zu fahren oder Schießen zu lernen – es gibt Leute, die machen das freiwillig. Oder wollen es zumindest machen. Nur scheitern sie häufig an der Bürokratie der Bundeswehr. In dem Podcast „Sicherheitshalber“ sprechen die Hosts regelmäßig über Sicherheitspolitik. Für eine Folge haben sie ihre Zuhörerschaft gefragt, welche bürokratischen Hürden sie bei ihren Bewerbungen überwinden mussten. Die Antworten waren teilweise bizarr.

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Eine Person schrieb zum Beispiel: „Ich musste auf meinen Telefonberatungstermin drei Wochen warten, um dann im Termin gesagt zu bekommen, dass ich die Anmeldefrist für 2025 um zwei Wochen verpasst habe.“ Viele erzählten, dass von der ersten Kontaktaufnahme bis zum Dienstantritt Jahre vergingen. In dieser Zeit kann sich bei den Interessierten natürlich viel verändern: Sie ziehen um, bekommen Kinder, wechseln den Job oder werden Anarchist:innen, die staatliche Strukturen ablehnen. Oder, und das beschreiben auch einige, sie haben einfach keine Lust mehr auf den Kampf mit der Bürokratie.

Punkt 5: Die Bundeswehr kann eine Million Reservist:innen nicht erreichen

Zur Erinnerung, die Bundeswehr will die Zahl ihrer Reservist:innen von aktuell 60.000 auf 200.000 Personen steigern. 140.000 Menschen mehr. Das ist theoretisch gar nicht so schwer, denn es gibt eine Million Reservist:innen im geeigneten Alter, also Personen, die schon einmal in der Bundeswehr gedient haben.

Dabei gibt es allerdings ein Problem: Mit der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 verlor die Bundeswehr den Kontakt zu ihnen. Aus Datenschutzgründen darf sie diese Personen nicht kontaktieren, um zum Beispiel herauszufinden, wer fit ist und sich vorstellen kann, wieder zu dienen. Das sagte der Vorsitzende des Reservistenverbandes, Patrick Sensburg, der Financial Times. Und er sagte selbst: „Das ist verrückt.“

Wer in Deutschland umzieht, bekommt innerhalb weniger Wochen einen Brief, um seine Rundfunkgebühren zu zahlen. Es sei absurd, sagte Sensburg, dass er dagegen die Leute nicht kontaktieren könne, deren Namen er in den Unterlagen des Reservistenverbandes gespeichert habe.

Es ist also kompliziert, wer in Deutschland Briefe bekommen darf: Reservisten nicht. Menschen, die ihre Rundfunkgebühren zahlen sollen, schon. Und alle 18-Jährigen in Zukunft auch.


Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Gabriel Schäfer, Audioversion: Christian Melchert

Wehrpflicht – Ja oder Nein? Das ist die falsche Frage

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