Futuristische Person vor der Skyline Shangehai

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Politik und Macht

Ist China ein Entwicklungsland? Das Land selbst sagt: Ja

China ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Trotzdem will die Regierung den Status als Entwicklungsland nicht aufgeben.

China ist ein Paradies für Hängebrücken-Liebhaber:innen: Dort steht die höchste Hängebrücke der Welt. Die zweitgrößte auch. Und die drittgrößte auch. Unter den 50 größten Hängebrücken ist nur eine, die nicht in China gebaut wurde. Chinas Hochgeschwindigkeitszüge sind zu 95 Prozent pünktlich, ihr Schienennetz ist mit 48.000 Kilometern Länge das längste der Welt. Und wenn es nach Jensen Huang geht, dem Chef des amerikanischen Mikrochip-Herstellers Nvidia, dann wird China das KI-Rennen gewinnen.

Sieht so ein Entwicklungsland aus? Nach Ansicht von Chinas Machthaber Xi Jinping: Ja. Auf dem BRICS-Gipfel 2023 verkündete er: „China ist, war immer, und wird für immer Teil der Entwicklungsländer bleiben!“ Und bei der Klimakonferenz im November in Brasilien forderte China die Industrieländer auf, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Sich selbst zählt China offensichtlich nicht zu den Industrieländern.

Technologischer Anführer sein, Weltpolitik dominieren, aber gleichzeitig ein Entwicklungsland bleiben wollen – das klingt erstmal paradox. „Entwicklungsland“ ist schließlich ein stigmatisierender Begriff, den viele Länder schleunigst loswerden wollen.

Wenn China ein Entwicklungsland sein will, dann geht es natürlich nicht um tatsächliche Armut oder den Zustand von Chinas Industrie. Der chinesischen Führung geht es darum, sich als Anführer der Entwicklungsländer zu inszenieren. Und dadurch die Welt nach Chinas Werten lenken zu können. Gerade sieht es so aus, als würde dieser Plan aufgehen.

Ist China jetzt ein Entwicklungsland? Kommt drauf an, wen man fragt

Im September 2025 sorgte eine Entscheidung Chinas für Erleichterung im Westen. China kündigte an, auf die Vorzugsbehandlungen für Entwicklungsländer in der Welthandelsorganisation (WTO) zu verzichten. Olof Gill, Sprecher der Europäischen Kommission, forderte China dazu auf, auch in anderen Abkommen den Status eines Entwicklungslandes aufzugeben. Die Global Times, eine der größten Staatszeitungen Chinas, ruderte jedoch gleich zurück: „China bleibt das weltweit größte Entwicklungsland. Das ist ein wissenschaftliches Urteil, das auf den objektiven Realitäten der nationalen Gegebenheiten Chinas beruht.“

Allerdings gibt es keine objektiven Realitäten beim Begriff „Entwicklungsland“, eine richtige Definition gibt es nicht. Im Allgemeinen versteht man darunter ein Land, in dem Menschen im Vergleich zu den Industrieländern deutlich weniger Geld verdienen und eine schlechte soziale Absicherung haben. In Entwicklungsländern sind Strom- und Wassernetz, Straßen und Industrie schlechter ausgebaut als in Industrieländern.

Viele benutzen den Ausdruck „Entwicklungsland“ heute nicht mehr und sprechen eher vom „Globalen Süden“. Allerdings sind diese Begriffe nicht unbedingt synonym. Wer „Globaler Süden“ sagt, meint damit meistens Länder, die wirtschaftlich und politisch benachteiligt sind und in der Vergangenheit kolonisiert wurden.

Die Begriffe an sich sind also schwammig. Handfest dagegen ist die Tatsache, ob Länder aufgrund ihres Status Gelder bekommen können oder nicht. „In der OECD, einem Forum von 38 Industrieländern, gilt China als Land, das Entwicklungshilfe erhalten kann“, sagt Stephan Klingebiel. Er ist Politologe am German Institute of Development and Sustainability. „In der Klimapolitik gilt China auch noch als Entwicklungsland. Deswegen hat China bisher keine Verpflichtung, Klimafinanzierung zu leisten.“ Dabei ist China derzeit das Land mit den höchsten CO₂‑Emissionen weltweit.

Die Rolle als Entwicklungsland ist für China vor allem geopolitisch wichtig

China geht es nicht ums Geld, das Entwicklungsländer bekommen. Das zeigt sich schon dadurch, dass China bereit ist, finanzielle Vorzüge wie in der WTO aufzugeben. Aber an der Identität als Entwicklungsland hält China fest. Denn im Wettkampf zwischen China und dem Westen ist entscheidend, wer wie viele Staaten als Partner gewinnen kann. Und die chinesische Regierung möchte sich die Länder des Globalen Südens als Partner sichern.

Xi Jinping präsentierte im September dieses Jahres die chinesische Lösung für Konflikte und Machtkämpfe weltweit: die Global Governance Initiative (GGI). Die Initiative sei gegen Hegemonie und Machtpolitik, sie stehe für Gerechtigkeit und die Stimmen von Entwicklungsländern, versprach Xi. Sie ist eines von vielen Projekten, mit denen China Länder des Globalen Südens als Partner gewinnen will. Unter dem Namen „Neue Seidenstraße“ baut China Bahnhöfe, Brücken und Häfen, vor allem im Globalen Süden. China hat sich zum Beispiel am Bau einer Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen den indonesischen Städten Jakarta und Bandung beteiligt. Seit 2023 haben mehr als zehn Millionen Menschen die Fahrt genutzt, die jetzt nur noch 45 Minuten statt wie zuvor drei Stunden dauert.

Xi Jinping streute bei der Vorstellung der GGI ganz beiläufig den Ausdruck „Community Of Common Destiny“ ein. Das klingt erstmal banal, ist aber ein wichtiger Begriff von Xis Außenpolitik. In der „Gemeinschaft des geteilten Schicksals“, wie es auf Deutsch heißt, sind individuelle Menschenrechte nationalen Interessen untergeordnet. Was nach gemeinsamer Entwicklung klingt, bedeutet in Wahrheit, der Welt Xis Werte wie Nichteinmischung oder Harmonische Gesellschaft schmackhaft zu machen. Die Harmonische Gesellschaft zieht die chinesische Regierung heran, um Kritik und Widerspruch im Namen der sozialen Ordnung zu unterdrücken. Und „Nichteinmischung“ ist ein Grundpfeiler der chinesischen Außenpolitik, mit dem die Regierung Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen zurückweist.

Mit dem Label „Entwicklungsland“ will China sich als Sprecher des Globalen Südens inszenieren. Ob China wirklich noch ein Entwicklungsland ist, ist dabei egal. Wichtiger ist das Gefühl der Gemeinschaft, das China erzeugen will und die Macht, die sich die chinesische Regierung verschafft, wenn sie einen Block des Globalen Südens anführt.

Das passiert, wenn Chinas Plan aufgeht

Gelingt es der chinesischen Regierung, den Globalen Süden von sich zu überzeugen, hat sie immerhin die Mehrheit der UN-Länder auf ihrer Seite und kann dadurch das Kräfteverhältnis innerhalb der UN zu ihren Gunsten verschieben. Das passiert schon jetzt.

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China hat 2022 eine Debatte im UN-Menschenrechtsrat um Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang verhindert – gestützt durch die Stimmen vieler Entwicklungsländer wie Bolivien, Indonesien, Nepal und Pakistan. China hielt in der westlichen Provinz Xinjiang zeitweise über eine Million Uigur:innen in sogenannten Umerziehungslagern fest. Es gibt außerdem Hinweise auf Zwangsarbeit, sexuelle Gewalt und Sterilisation uigurischer Frauen. Die Abstimmung sei ein Sieg für die Entwicklungsländer, twitterte damals Hua Chunying, Sprecherin des chinesischen Außenministeriums. „Menschenrechte dürfen nicht als Vorwand genutzt werden, um Lügen zu erfinden und in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzugreifen.“

Bisher läuft Chinas Plan nicht schlecht: In den vergangenen zwei Jahren sind unter anderem Ägypten, Indonesien, Äthiopien, Iran und Die Vereinigten Arabischen Emirate dem von China mitgegründeten BRICS-Staatenbund beigetreten, der sich als Plattform für die Länder des Globalen Südens versteht. „Diese BRICS-Erweiterung hat vor allem China vorangetrieben“, sagt Klingebiel. Und stellt man Menschen auf dem afrikanischen Kontinent und im Nahen Osten vor die Wahl, wen sie lieber als führende Kraft sehen würden, die USA oder China, dann entscheidet sich mittlerweile mehr als die Hälfte für China, zeigt eine Studie des Economist.

Chinas Vorhaben könne für uns in Europa zum Problem werden, sagt Klingebiel: „Es ist sicher nicht in unserem Interesse, wenn ein Block des Globalen Südens, angeführt von China, eine einheitliche Position vertritt.“ Denn die UN ist ohnehin derzeit in ihrer größten Krise seit der Gründung. Der UN-Sicherheitsrat ist dauerhaft blockiert, das größte Geberland USA hat seine Zahlungen eingestellt, kaum jemand überblickt noch die Bürokratie der UN. Wenn China die Mehrheit der UN-Länder hinter sich versammeln kann, stärkt das autoritäre Systeme weltweit.

Die UN-Länder könnten in zwei Machtblöcke zerfallen und Schauplatz eines neuen Systemwettbewerbs werden. Dadurch könnte es zum Beispiel noch schwieriger werden, gemeinsam gegen aggressive Staaten wie Russland vorzugehen. Chinesische Werte wie Nicht-Einmischung würden die UN bei Menschenrechtsverstößen komplett handlungsunfähig machen. Das destabilisiert auch die Grundprinzipien der UN, wie zum Beispiel Achtung der Menschenrechte, Gewaltverzicht oder Wahrung des Weltfriedens. Eine derart fragmentierte Weltordnung ist anfälliger für Kriege, Handelskonflikte und Desinformation. Dafür ist sie kaum in der Lage, geschlossen den Klimawandel oder Pandemien zu bekämpfen.

China hat sich in der Vergangenheit mehr um den Globalen Süden bemüht

Die USA und europäische Vertreter:innen kritisieren China regelmäßig für sein Vorgehen. Allerdings müssten sie auch zugeben: Der Westen hat China für diese Rolle eine Steilvorlage gegeben. In vielen Ländern des Globalen Südens herrscht Misstrauen gegenüber dem Westen. Wie soll man schließlich Vertrauen fassen zu Ländern, die einst kolonisierten, Menschen ausbeuteten und heute immer noch bestimmen, wo es auf der Weltbühne langgeht?

China hingegen war 1955 Teilnehmer der Bandung-Konferenz, dem ersten Treffen asiatischer und afrikanischer Staaten ohne westliche Mächte. Während des Kalten Krieges pflegte China enge Beziehungen zu Staaten der Blockfreien Bewegung wie Äthiopien, Ghana und Indonesien. China hat ein engeres Verhältnis zum Globalen Süden, weil es sich in der Vergangenheit mehr um ihn bemüht hat.

Die Regierungen von Ländern wie Südafrika, El Salvador oder Senegal wissen, dass Chinas heutige Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden vor allem strategisches Vorgehen ist. Phrasen wie „Community Of Shared Destiny“ und „Telling China’s Story Well“ sind genau das: Phrasen. Trotzdem profitieren die Länder des Globalen Südens davon, heute die Wahl zwischen Partnern im Westen und in China zu haben.

„Viele Länder auf dem afrikanischen Kontinent schauen sich soziale Sicherungssysteme oder die öffentliche Verwaltung nicht in Deutschland ab. Die fahren nach Singapur, nach Südkorea, oder eben nach China“, sagt Klingebiel. „Der ANC, die Regierungspartei in Südafrika, fährt regelmäßig nach China, um dort von der Kommunistischen Partei erfolgreiche Parteiarbeit zu lernen.“ Vielen Ländern des Globalen Südens geht es also nicht um eine schwammige „geteilte Schicksalsgemeinschaft“. Sondern um pragmatische Lösungen dafür, wie man ein Land verwaltet und regiert.

Der kanadische Technologieanalyst Dan Wang hat in seinem Buch „Breakneck Speed: Chinas Quest to Engineer the Future“ den Begriff der europäischen Mausoleums-Wirtschaft geprägt: Sie stagniert, während die Europäer:innen pessimistisch in die Zukunft und trotzdem hochnäsig auf China blicken. Wang schreibt, er fände es schön, dass China behaupte, es werde für immer ein Entwicklungsland bleiben. Natürlich erkennt Wang den zynischen Versuch, Entwicklungsländern zu erzählen, China würde sich für ihre Interessen einsetzen. Trotzdem, sei es nicht besser, ein sich entwickelndes Land zu sein, als eines, das fertig ist, zu Ende entwickelt? „Überlasst das Entwickelt-Label“, fordert Wang, „Europas hübscher Mausoleums-Wirtschaft.“


Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Gabriel Schäfer, Audioversion: Iris Hochberger

Ist China ein Entwicklungsland? Das Land selbst sagt: Ja

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