Eine Straßenszene in Gaza. Im Vordergrund fährt ein Mann Fahrrad, dahinter laufen Leute auf der Straße. Im Hintergrund sind kaputte Häuser zu erkennen, über denen sich schwerer Rauch bildet.

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Politik und Macht

Wie viel ist noch von Gaza übrig?

Es gibt kaum unabhängige Informationen aus Gaza, aber Schätzungen und Analysen. Ein Überblick.

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Reporter für Macht und Demokratie

In der Vergangenheit versuchten Regierungen oft, Bilder aus Kriegsgebieten von der Öffentlichkeit fernzuhalten. Sie glaubten, ein einziges Bild könnte das Weltgeschehen verändern. Das geschah zum Beispiel während des Vietnamkriegs, als das Foto des „Napalm Girls“ und Aufnahmen des Massakers von Mỹ Lai um die Welt gingen und die US-Bevölkerung gegen die eigene Regierung aufbrachten.

In Gaza herrscht seit 22 Monaten Krieg. An Bildern fehlt es nicht. Täglich gehen Aufnahmen entstellter Gesichter und lebloser Körper um die Welt. Aber es fehlt an Informationen. Israel hat den Gazastreifen abgeriegelt und verweigert internationalen Journalist:innen den Zugang. Zudem hat das israelische Militär laut Reporter ohne Grenzen über 200 palästinensische Medienschaffende getötet.

Trotz einer Flut von Bildern gibt es nur wenige unabhängige Informationen aus Gaza. Doch es gibt Schätzungen, Analysen und Recherchen von internationalen Organisationen, die das Ausmaß der Zerstörung zeigen. Ein Überblick in sieben Zahlen.

280.000 zerstörte Wohnungen

In den ersten sechs Tagen nach dem 7. Oktober 2023 warf die israelische Luftwaffe eigenen Angaben zufolge 6.000 Bomben auf den Gazastreifen. Inzwischen liegen weite Teile des Gebiets in Trümmern.

Laut einer Analyse von Satellitendaten durch die Vereinten Nationen zerstörte oder beschädigte der Krieg bis April 2025 rund 190.000 Gebäude. Das entspricht rund 280.000 Wohnungen – und damit laut Weltbank ungefähr zwei Drittel des gesamten Wohnraums im Gazastreifen.

Laut einem Bericht des Palästinensischen Zentrums für die Erhaltung des Kulturerbes (CCHP) zerstörten oder beschädigten die israelischen Angriffe bis Januar 2025 auch 226 Kulturstätten. Das sind rund zwei Drittel aller bedeutenden Kulturstätten in Gaza.

53,5 Millionen Tonnen Schutt

Zerstörte Gebäude und Bombenreste hinterlassen Schutt. Einer Analyse der Vereinten Nationen zufolge liegen inzwischen rund 53,5 Millionen Tonnen Trümmer in Gaza. Das bedeutet: Auf jedem Quadratmeter des Gazastreifens liegen durchschnittlich 147 Kilogramm Schutt. Darin befinden sich Gefahrenstoffe, Munition, nicht explodierte Bomben und schädliche Partikel, die den Boden über Jahre vergiften können.

Zum Vergleich: Die Belagerung und Bombardierung Aleppos durch das Assad-Regime und Russland hinterließ laut Vereinten Nationen rund 15 Millionen Tonnen Schutt, die Zerstörung von Homs 5,3 Millionen Tonnen.

Schon im April 2024 – als die UN von 37 Millionen Tonnen Schutt ausging – schätzte ein UN-Experte laut Guardian, dass die Beseitigung der Trümmer in Gaza 14 Jahre dauern könnte.

40.000 Menschen pro Quadratkilometer

Vor dem Krieg wohnten die rund zwei Millionen Bewohner:innen Gazas auf einer Fläche von 365 Quadratkilometern. Die Bevölkerungsdichte entsprach laut dem Economist etwa der von Madrid.

Inzwischen hat das israelische Militär einen Großteil des Gebiets zur militärischen Sperrzone erklärt und zahlreiche Evakuierungen angeordnet. Deshalb lebt die Bevölkerung des Gazastreifen jetzt auf lediglich 13,7 Prozent des Gesamtgebiets. Das sind rund 50 Quadratkilometer. Auf jedem Quadratkilometer in Gaza leben also durchschnittlich rund 40.000 Menschen.

Zum Vergleich: In Berlin leben etwa 4.000 Menschen pro Quadratkilometer. Um ähnliche Zustände zu bekommen, müsste die gesamte Bevölkerung Berlins auf einem Zehntel der Stadtfläche leben.

62.000 Tote

Laut dem Gesundheitsministerium der Hamas hat die israelische Armee seit dem 7. Oktober 2023 rund 62.000 Menschen getötet und 155.000 Menschen in Gaza verletzt. Das israelische Militär zählt auf der eigenen Seite 454 getötete israelische Soldaten und rund 2.900 Verletzte.

Die offiziellen Todeszahlen des Hamas-Gesundheitsministeriums werden immer wieder hinterfragt, beispielsweise von der israelischen Regierung oder Wissenschaftler:innen der Henry Jackson Society, einer neokonservativen Denkfabrik. Zum einen, weil die Hamas in ihren Zahlen nicht zwischen getöteten Zivilist:innen und Kämpfern unterscheidet. Zum anderen, weil der Anteil getöteter Frauen und Kinder in der Vergangenheit nach unten korrigiert wurde. Zahlreiche Untersuchungen, die unter anderem in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet erschienen, haben aber gezeigt, dass die Zahlen insgesamt glaubwürdig sind. Sogar die israelische Regierung arbeitet intern mit den Daten des Hamas-Gesundheitsministeriums, wie Recherchen des israelischen Nachrichtenportals „Local Call“ zeigen.

Laut einer Studie der Royal Holloway University of London liegen die Todeszahlen wahrscheinlich sogar höher als von der Hamas gemeldet: Bis zum 5. Januar 2025 geht die Untersuchung von ungefähr 75.000 Kriegstoten in Gaza aus, die Hälfte davon Frauen, Kinder und ältere Menschen. Das Gesundheitsministerium in Gaza meldete im selben Zeitraum rund 46.000 Tote. Das israelische Militär geht wohl intern davon aus, dass fünf von sechs getötete Menschen in Gaza Zivilist:innen sind, wie eine Recherchekooperation des Guardian sowie der israelischen Medien „+972 Magazine“ und „Local Call“ zeigte.

Zu den getöteten Menschen kommen laut den Wissenschaftler:innen zudem noch Menschen, die indirekt an Kriegsfolgen sterben. Also durch Krankheiten oder aufgrund der fehlenden Gesundheitsversorgung. Berechnet man den Mittelwert der offiziellen Angaben und der unabhängigen Untersuchung, dann sind laut Economist inzwischen vier bis fünf Prozent der Bevölkerung Gazas tot.

16.613 Schüler:innen

Seit Beginn des Krieges sind die Schulen in Gaza geschlossen. Der Großteil ist inzwischen zerstört. Einem UN-Bericht vom Juli 2025 zufolge hat Israel „Luftangriffe, Beschuss, Feuer und kontrollierte Sprengungen“ eingesetzt, um mehr als 90 Prozent der Schul- und Universitätsgebäude in Gaza zu beschädigen und zu zerstören.

Eine unabhängige UN-Kommission bezeichnet die Angriffe auf Gazas Schulen als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Laut den Vereinten Nationen wurden inzwischen 16.613 Schüler:innen in Gaza getötet, rund 650.000 haben seit Beginn des Krieges keinen Zugang zu Bildung.

Auch das Gesundheitssystem ist seit Beginn des Krieges Ziel von Angriffen. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat das israelische Militär 94 Prozent aller Krankenhäuser beschädigt oder zerstört. Bis Mai 2025 gab es laut WHO 697 israelische Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen. Rund 1.600 Angestellte im Gesundheitsbereich wurden bislang getötet.

1,5 Prozent aller Landwirtschaftsflächen

Früchte, Gemüse, Milchprodukte, Fleisch und Fisch: Vor dem Krieg produzierte Gaza viele Lebensmittel selbst. Rund 560.000 Menschen waren den Vereinten Nationen zufolge auf Landwirtschaft und Viehhaltung angewiesen.

Laut einer Analyse der Nichtregierungsorganisation Forensic Architecture verfügte Gaza vor dem Krieg über rund 170 Quadratkilometer Agrarfläche. Inzwischen sind weite Teile davon zerstört. Allein bis März 2024 zählte Forensic Architecture rund 2.000 israelische Angriffe auf Agrarflächen. In den ersten Monaten des Krieges zerstörte die israelische Armee demnach rund die Hälfte aller Gewächshäuser. Inzwischen sind laut Vereinten Nationen 71 Prozent der Gewächshäuser zerstört.

Eine Analyse von Satellitendaten der Vereinten Nationen zeigt, dass mittlerweile nur noch 1,5 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Flächen in Gaza zugänglich und unversehrt sind. Untersuchungen der Universität Kent kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Zudem hat das israelische Militär das Fischen verboten und einen Großteil der Fischerboote Gazas zerstört. Hilfslieferungen sind deshalb die einzige Möglichkeit, an Essen zu kommen.

2.279 Kalorien

66 Euro für ein Kilo Zucker. 24 Euro für ein Kilo Kartoffeln. Das sind aktuelle Preise aus dem Gazastreifen, die aus Berichten der Gaza-Handelskammer hervorgehen. Seit dem Beginn des Krieges stieg der Preis von einem Kilo Reis demnach von umgerechnet zwei Euro auf rund 12 Euro an. Gurken und Tomaten wurden vor dem Krieg in Gaza selbst produziert und kosteten damals rund 50 Cent pro Kilo. Jetzt liegt der Preis bei umgerechnet 13, beziehungsweise 15 Euro. Diese Preise wiederum liegen nicht nur an der zerstörten Landwirtschaft, sondern auch an den blockierten Hilfslieferungen in das Gebiet.

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Im Jahr 2008 berechnete COGAT, die israelische Koordinierungsstelle für Hilfslieferungen in palästinensische Gebiete, dass die Bevölkerung Gazas mindestens 2.279 Kalorien pro Person und Tag braucht, um Mangelernährung zu verhindern. Die Berechnung wurde 2012 nach einem langen Rechtsstreit veröffentlicht. Im Internet-Archiv ist das Dokument noch verfügbar.

Hilfsorganisationen fordern aktuell ein Kilo Lebensmittel pro Person und Tag, um eine Hungersnot abzuwenden. Das ist noch etwas weniger als die israelische Regierung 2008 selbst berechnete. Dafür bräuchte es jeden Monat 62.000 Tonnen Essen, die nach Gaza geliefert werden. Die israelische Regierung ließ zwischen März und Juni, also über vier Monate hinweg, insgesamt nur 56.000 Tonnen Lebensmittel in den Gazastreifen. Das ist weniger als ein Viertel des Minimums, das COGAT selbst berechnete. Im März und April erreichte keine einzige Hilfslieferung Gaza, im Juli waren es lediglich rund 40.000 Tonnen.

Zahlen sind selten so mächtig wie Bilder. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie 53,5 Millionen Tonnen Schutt aussehen. Oder was die Anzahl zerstörter Wohnungen und Schulen für die Menschen vor Ort bedeutet: auf den Trümmern der eigenen Wohnung zu zelten, während der Donner von Bombeneinschlägen zum alltäglichen Hintergrundrauschen wird.

Doch solange das israelische Militär den Gazastreifen abriegelt und Journalist:innen tötet, ist jede verfügbare Zahl ein Puzzleteil. Zusammengenommen zeigen sie ein umfassenderes Bild der Situation in Gaza, als jedes einzelne Foto es aktuell kann.


Hinweis, 21.08.2025: Wir haben nachträglich die Information zum Anteil der getöteten Zivilist:innen in Gaza ergänzt, weil die entsprechende Recherche nach Erscheinen dieses Artikels veröffentlicht wurde.

Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Rico Grimm, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger

Wie viel ist noch von Gaza übrig?

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