„Hier ist wieder einer“, sagt Konni. In den Händen hält sie vier Zettel, an der kurzen Seite zusammengetackert. Unsichere Schreibschrift zieht sich über die Blätter.
Lieber Weihnachtsmann,
ich wünsche mir den Polarexpress (…) und ich wünsche mir Frieden, Glück, Liebe, Freude und das alle Menschen sich mögen (…) viele Grüße von Ferris.
Jedes Jahr zu Weihnachten schicken Kinder aus der ganzen Welt ihre Wunschzettel nicht an den Nordpol, sondern nach Himmelpfort in Brandenburg, zum Weihnachtspostamt. Vor zwei Jahren merkte man im Postamt: Die allermeisten Kinder wünschen sich „Frieden“. Vorher waren es vor allem Spielzeug und Gesundheit für ihre Familien, nun stand Frieden ganz oben auf den Wunschlisten. 2024 wieder das Gleiche: Kinder sehnen sich vor allem nach Frieden.
Die Welt ist unsicher geworden. Der russische Angriffskrieg verängstigt viele in Europa, hat Debatten über Wehrpflicht befeuert. Krieg und all die Sorgen dazu haben sich in den Alltag geschlichen, an den Abendbrotstisch, in die Schulklassen und ins Bewusstsein von Kindern. Unter den 12- bis 25-Jährigen in Deutschland ist ein Krieg in Europa die größte Sorge, wie die Shell-Jugendstudie 2024 zeigt.
Zwei Kinder aus Berlin und Sachsen schickten vor 41 Jahren die ersten Wunschzettel
Eine Sorge, die sich zu Weihnachten in Himmelpfort zeigt, wo sich jedes Jahr um Weihnachten die Filiale der Deutschen Post in das Weihnachtspostamt verwandelt. Dann schmückt ein Weihnachtsbaum den Raum, der kaum größer ist als eine Doppelgarage. Dann zieht ein Mann ein, der von sich sagt, er sei der Weihnachtsmann, gemeinsam mit seinen 20 Engeln. So nennen sich diejenigen, die ihm helfen, die Briefe zu beantworten. Vier davon sitzen in der Filiale beim Weihnachtsmann, 16 weitere helfen im Hintergrund. Alle bezahlt von der Deutschen Post.
Vor 41 Jahren kamen zwei Wunschzettel in der Postfiliale an, Kornelia Matzke beantwortete die Briefe. | Julia Autz
Konni faltet Ferris Wunschzettel zusammen und legt ihn auf den schweren dunklen Schreibtisch des Weihnachtsmannes. Diesen Brief wird er beantworten. Dann nimmt sie den nächsten Umschlag aus einer der gelben Postboxen, die sich überall im Weihnachtspostamt stapeln.
Dass so viele Kinder überhaupt ihre Briefe nach Himmelpfort schicken, liegt an Kornelia Matzke, der Frau mit den dichten braunen Haaren und der großen Brille, 66 Jahre ist sie alt. Vor 41 Jahren, zu Weihnachten 1984, tauchten in der Postfiliale in Himmelpfort, eigentlich eine ganz normale Filiale der Deutschen Post, zwei Briefe auf. Adressiert an den Weihnachtsmann in Himmelpfort. Vermutlich dachten die Kinder: In Himmelpfort, da muss er doch sein. Aus Sachsen und Berlin kamen die beiden Briefe, das weiß Konni heute noch.
Zumindest der Bart des Weihnachtsmannes ist echt
Statt sie wegzuwerfen, nahm Konni, die damals bei der Deutschen Post der DDR arbeitete, die Briefe mit nach Hause. „Dann habe ich über Nacht überlegt. Du kannst ja nicht nicht antworten, dann verlieren die Kinder den Glauben. Also habe ich die Briefe beantwortet“, sagt sie. Ein Jahr später waren es 75 Wunschzettel. Wahrscheinlich, sagt Konni, erzählten die beiden Kinder aus Berlin und Sachsen ihren Freunden, dass ihnen der Weihnachtsmann auf ihre Briefe geantwortet hatte. Inzwischen kommen jedes Jahr mehr als 300.000 Wunschzettel an. Und damit mehr als 300.000 Einblicke in das Seelenleben der Kinder der Welt.
Jeder dieser Briefe wird beantwortet. Die Deutsche Post kostet allein das Porto geschätzt 300.000 Euro, eher mehr, wenn man bedenkt, dass viele Antwortbriefe ins Ausland verschickt werden. Aber was ist das schon, wenn man dadurch den Glauben der Kinder bewahren kann? Wenn man die Tradition pflegen kann? Und sicher, dem Image der Deutschen Post tut es auch gut.
An diesem Dezembertag können Kinder ihre Briefe persönlich übergeben. Ganze Schulklassen sind angereist. Hunderte Grundschüler:innen wuseln umher. Ein Mädchen mit ihrem Wunschzettel streckt sich hoch, der Weihnachtsmann mit seinem Jutesack herunter. Und noch weitere Kinder werfen ihre eingerollten Zettel hinein und schauen ungläubig hoch, sind so still, wie man Erstklässler:innen selten erlebt, eben nur, wenn vor ihnen der Weihnachtsmann steht, den sie bisher nur aus Erzählungen kannten. Am Bart zu ziehen, traut sich keine:r von ihnen. Würden sie es tun, würden sie merken, dass der echt ist.
An nur wenigen Tagen können die Kinder ihre Wunschzettel persönlichen an den Weihnachtsmann übergeben. | Julia Autz
Es ist ein magisches Alter. Eines zwischen noch nicht Teeniesein und nicht mehr Kleinkindsein. Eines, in dem das Kalenderjahr noch viele Zauber beinhaltet, in dem der Osterhase Eier versteckt, die Zahnfee ausgefallene Milchzähne in Geschenke tauscht, Monster unter dem Bett leben und der Weihnachtsmann jedes Kind kennt. Nun soll sich ausgerechnet in diese magische Zeit die Angst gedrängt haben.
Die Wünsche der Kinder sind bescheidener geworden
Sie wünscht sich Reitstiefel, erzählt ein siebenjähriges Mädchen, das sich als Reh hat schminken lassen, nachdem sie dem Weihnachtsmann hinterhergewunken hat. Eine andere wünscht sich das Spiel „Mensch ärgere dich nicht“, das sie dann mit ihren vier Geschwistern spielen will; wie sie das zu fünft machen, muss sie noch herausfinden. Ein Junge wünscht sich einen Spielzeugdino. Ein Mädchen erzählt, dass ihre Mutter geholfen hat, Bilder von dem Schminkset auszudrucken und auf den Wunschzettel zu kleben, damit der Weihnachtsmann auch ja das richtige Set bringt.
Bescheiden seien die Wünsche der Kinder, sagt die Lehrerin, die die Kinder begleitet. Ein Eindruck, den auch die Engel haben. In den ersten 14 Tagen, seit das Weihnachtspostamt geöffnet ist, kamen 70.000 Briefe. Viele wünschten sich Dinge wie einen Ball, Gesellschaftsspiele, Malstifte und oft Bücher. Dann gibt es eben auch die anderen Wünsche wie Frieden. Man könnte sagen, es sind die unerfüllbaren Wünsche. In Himmelpfort sagen sie: Problemwünsche.
Sie kommen von deutschen Kindern, von ukrainischen, von russischen, sagt der Weihnachtsmann mit dem echten Bart. Aber auch aus Taiwan, China, Japan, nachdem Fernsehteams aus den Ländern in Himmelpfort waren. Ein paar unterschiedliche Sprachen sprechen die Engel, bei allen anderen hilft ein Übersetzungsprogramm. „In einem Brief stand: ‚Ich möchte nicht, dass mein Papa zur Armee muss und totgeschossen wird“, sagt der Weihnachtsmann. In einem anderen stand, dass der Krieg enden solle, damit der Papa heimkommen könne. Der war von einem ukrainischen Kind. Solche Briefe kämen so häufig, dass Frieden auch dieses Jahr wahrscheinlich der meistgenannte Wunsch sein wird.
Es mache ihn nachdenklich, sagt der Weihnachtsmann.
Sie hätten gelernt, damit umzugehen, sagt Konni.
Vor ein paar Jahren, da hätten sie das alle noch mit nach Hause genommen, wenn ein Kind von Problemwünschen schrieb. „Einige haben auch geweint“, sagt Konni. Heute sagt sie sich: „Ich habe dem Kind einen wunderschönen Brief geschrieben. Ich hoffe, ich habe ein kleines Leuchten in seine Augen gebracht, dass es für eine Weile die Welt und den Krieg vergisst.“
Um Problemwünsche kümmert sich der Weihnachtsmann selbst
Aber, um mal eine kritische Frage zu erlauben, wie echt sind die Wünsche überhaupt? Sitzt da nicht vielleicht ein Kind am Küchentisch, malt und schreibt seinen Wunschzettel, listet Bausteine und Puppen auf, neben ihm die Eltern, die schnell noch Erziehungsmaßnahmen unternehmen wollen und sagen: Wünsch dir doch noch was Selbstloses! Wie wärs mit Gesundheit oder Frieden!
„Die sind echt“, sagt die Frau sofort, die Konni an dem runden Tisch gegenübersitzt, wo sie einen Brief nach dem nächsten öffnen.
„Na, ich weiß nicht“, sagt Konni und blickt über die Ränder ihrer Brille. „Kommt darauf an, wie sehr solche Themen im Elternhaus stattfinden oder ob sie Kindernachrichten schauen.“
„Darum kommt das schon von den Kindern. Ich glaube nicht, dass die Eltern sagen: Du schreibst jetzt noch, dass du dir Frieden wünscht“, sagt der Engel gegenüber.
So viel die Engel und der Weihnachtsmann an den Briefen der Kinder dieser Welt erkennen können. Etwa, welche Kinder den Wunschzettel alleine schreiben und abschicken, was sie daran sehen, dass die Adresse fehlt – und ohne Adresse keine Antwort. Oder was die Kinder bewegt, die erste Liebe oder kranke Verwandte. So wissen sie am Ende, weil sie wirklich jeden Brief lesen: Der meistgenannte Wunsch ist Frieden. Ob der nun von den Kindern oder den Eltern kommt, denen das noch wichtig war, es als Wunsch aufschreiben zu lassen.
Auf dem Schreibtisch des Weihnachtsmannes und am runden Tisch der Engel türmen sich die Wunschzettel der Kinder aus aller Welt. | Julia Autz
Immer, wenn so ein Problemwunsch auftaucht, antwortet der Weihnachtsmann persönlich, statt die Engel, die eine vorgedruckte Antwort verwenden und so 300 bis 400 Kuverts am Tag beschriften können. Auf solche Wünsche könne man nicht mit einem maschinellen Schreiben antworten, sagt der Weihnachtsmann. Da brauche es eine handgeschriebene Antwort von ihm persönlich und Feingefühl. Also, was ist nun die Antwort auf den unerfüllbaren Wunsch? „Da kann man nur sagen, dass der Weihnachtsmann sich auch Frieden wünscht und wir versuchen, alles in unserer Kraft dafür zu tun“, sagt er.
Vielleicht ist es selbst vom Weihnachtsmann zu viel verlangt, diesen Wunsch zu erfüllen. Vielleicht gibt es deshalb auf so einen unerfüllbaren Wunsch auch nur unbefriedigende Antworten. Aber immerhin kommt sie vom Weihnachtsmann. Aus Himmelpfort in Brandenburg.
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Gabriel Schäfer, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger