Susanne Siegert macht auf Tiktok und Instagram Videos über die Verbrechen der Nazizeit. Damit erreicht sie ein Millionenpublikum. Ihr Slogan ist: „Alles, was du in der Schule NICHT über Nazi-Verbrechen lernst“.
Susanne Siegert, dein Slogan auf Instagram und Tiktok ist etwas provokant, oder nicht?
Der Satz soll auf das Klischee anspielen, dass wir denken, wir hätten in der Schule alles über Naziverbrechen gelernt. Meine Videos sind sehr nischig. Ich glaube nicht, dass eine ganze Unterrichtsstunde über SS-Wachhunde oder die Menstruation von weiblichen Gefangenen gehen muss.
Susanne Siegert
Susanne Siegert, geboren 1992, ist Journalistin und eine der bekanntesten Stimmen der digitalen Erinnerungskultur in Deutschland. Sie klärt auf Instagram und Tiktok unter dem Namen „keine.erinnerungskultur“ über den Holocaust auf. Jetzt hat sie ein Buch geschrieben: „Gedenken neu denken: Wie sich unser Erinnern an den Holocaust verändern muss“.
Ich bekomme immer mal wieder Nachrichten von Lehrkräften, in denen sie mir vorwerfen, ich würde Geschichtsunterricht und meine Videos gegeneinander ausspielen. Dabei sehe ich das gar nicht als Gegeneinander. Der Geschichtsunterricht ist dafür da, um das große Ganze zu erklären und meine Videos zoomen an Einzelaspekte dran, die Teil des großen Ganzen sind.
Worüber wird im Geschichtsunterricht zu wenig gesprochen?
Darüber, warum Lehrer bestimmte Inhalte vermitteln. Für viele Schüler fühlt sich Unterricht über die Nazizeit nach altertümlicher Geschichte an, dabei stimmt das ja nicht.
Der Geschichtsunterricht sollte zeigen, weshalb wir immer noch über die Nazizeit reden und welche Auswirkungen sie bis heute hat. Das finde ich viel wichtiger, als dass eine Schülerin alle KZs aufzählen kann. Man muss den Lehrplan nicht komplett umstrukturieren. Aber man kann die Spielräume, die er bietet, nutzen, um Bezüge zur eigenen Lebenswelt herzustellen.
Wie?
Man muss zum Beispiel nicht immer über Sophie Scholl und Stauffenberg sprechen, wenn es um Widerstand in der NS-Zeit geht. Stattdessen kann man gemeinsam recherchieren, welche Geschichten es in der eigenen Region oder in der Familiengeschichte gibt. Solche Bezüge helfen, um einen Zugang zur Geschichte zu finden. Vielleicht finden die Schüler sogar was Spannendes raus.
Das heißt ja eigentlich, beim Auseinandersetzen mit der Geschichte nischiger zu werden. Warum ist das wichtig?
Man spricht von „den Nazis“, aber weiß gar nicht genau, wen man eigentlich meint. Das ist alles schön weit weg. Erst, wenn man ranzoomt, wird es klarer.
Was meinst du damit?
Ich habe gestern an einem Video über die Bücherverbrennungen gearbeitet. Davon haben die meisten wahrscheinlich schon mal gehört: Die Nazis haben Bücher von jüdischen Autorinnen und Autoren verbrannt.
Bis gestern dachte ich, die Bücherverbrennungen seien staatsgesteuert gewesen. Aber es waren deutsche Studenten, die vom Regime begeistert waren, die das initiiert und organisiert haben. Sie haben eigene Thesen aufgestellt, welche Bücher verbrannt werden sollen und warum.
Die Bilder von der Bücherverbrennung kenne ich sehr gut, aber das war mir so nicht klar.
So geht es vielen, glaube ich.
Reichspropadandaminister Joseph Goebbels und das Nazi-Regime fanden die Initiative so großartig, dass sie das übernommen haben. Am 10. Mai 1933 fanden in 21 Unistädten Bücherverbrennungen statt. In Berlin haben zum Beispiel 40.000 Menschen zugeschaut. Das war ein riesiges Event.
Es gibt immer häufiger Schulklassen, in denen mindestens die Hälfte der Kinder keinen eigenen Bezug zur Nazizeit haben, weil ihre Familie erst nach 1945 nach Deutschland gekommen ist. Du sprichst immer wieder davon, sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Für diese Menschen macht das ja keinen Sinn.
Meine Zielgruppe sind vor allem Menschen, deren Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern womöglich Täter waren. Aus denen bestand in meiner Schulzeit im katholisch geprägten Bayern vor 25 Jahren auch der Großteil meiner Klasse.
Aber auch Menschen, die eine Migrationsgeschichte haben, leben in einem Land, das von seiner Geschichte bis heute geprägt ist. Die Stadt, in der sie leben, sieht wegen der NS-Zeit so aus, wie sie aussieht. Das Grundgesetz ist davon geprägt.
Deine Videos zeigen, dass das Interesse an dem Thema auch heute noch da ist: Hunderttausende schauen deine Videos auf Tiktok und Instagram regelmäßig an, manche haben mehr als eine Million Klicks. Ich habe mich gefragt, wer die Menschen sind, die deine Videos ansehen.
70 Prozent meiner Followerschaft sind weiblich. Altersmäßig gibt es einen Unterschied zwischen Instagram und Tiktok. Bei Instagram sind die Leute eher Mitte 30 und nach oben gibt es keine Grenze. Auf Tiktok sind die meisten jünger als 25. Ich merke den Altersunterschied an den Fragen, die gestellt werden und den Erfahrungen, die in den Kommentaren ausgetauscht werden.
Auf Instagram sind die Kommentare häufig ablehnender, weil das ältere Publikum schneller das Gefühl hat, ich greife ihre direkten Vorfahren an. Da ist es eben nicht der Uropa, sondern der Opa, den man meint, wenn man von Verbrechen der Wehrmacht spricht. Auf Tiktok gibt es eine größere Distanz. Täterschaft fühlt sich für die Jüngeren abstrakt an. Sie stellen oft Fragen, bei denen ich denke: Oh, ist das nichts, was in der Schule erklärt wird?
Zum Beispiel?
Letztens hat eine Person gefragt, wie es sein kann, dass ich von ukrainischen Juden in Auschwitz spreche, es seien doch nur deutsche Juden verfolgt und verschleppt worden. Manchmal merke ich an den Fragen auch, dass die Jüngeren denken, es hätte überall Gaskammern und Krematorien gegeben. Das ist das, was sie aus Serien und Computerspielen kennen.
Lange konnte der Bezug zur Nazizeit über Zeitzeugen hergestellt werden. Was macht man jetzt, wo diese Menschen sterben?
Die Überlebenden-Interviews gibt es weiterhin. Als ich angefangen habe, mich mit der Nazizeit auseinanderzusetzen, waren diese Interviews eine eindrucksvolle Quelle für mich. Sie sind manchmal vier, fünf Stunden lang. Man muss also gar nicht immer neue Interviews führen oder mit den Zeitzeugen selbst sprechen. Und die Bezüge zur eigenen Familiengeschichte existieren weiter.
Du schreibst, Holocaustgedenken mache uns nicht zu besseren und demokratischen Menschen. Aber Gedenken ist doch immer der Versuch, durch das Verstehen der Vergangenheit zu verhindern, dass so etwas nochmal passieren würde.
Klar, es gibt einen Lerneffekt, wenn man sich mit der Geschichte auseinandersetzt: Man erkennt Muster, zum Beispiel wie auch heute über Menschen mit Behinderung oder über Juden und Jüdinnen gesprochen wird. Lehrer sollten aber nicht denken: Nur, weil man einmal mit seinen Schülerinnen und Schülern in eine Gedenkstätte fährt, kommen sie als aufrechte Demokraten wieder raus.
Wofür ist Holocaustgedenken dann gut?
Erstens aus Respekt vor den Opfern und Angehörigen der Opfer des Holocaust. Und zweitens, um ein Verständnis für die Dynamiken zu entwickeln, in denen wir jetzt leben. Sei es politisch oder familiär. Wenn man sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzt, merkt man erst, dass Erinnerungskultur immer und überall ist. Ich kann wahrscheinlich mein ganzes Leben lang jede Woche 50 Videos machen, weil ich immer wieder über neue Spuren und Zusammenhänge stolpere.
Zum Beispiel?
In TV-Shows wird der Begriff „asozial“ benutzt, ein Wort, das von den Nazis geprägt wurde. Die Französin Gisèle Pelicot, die jahrelang von ihrem Ehemann betäubt und vergewaltigt worden ist, fordert, dass die Scham die Seite wechseln muss. Das gilt auch für die Frauen, die von SS-Männern vergewaltigt worden sind. Sie haben nie oder erst sehr spät über die Verbrechen gesprochen, die an ihnen begangen wurden.
Und viele verleugnen bis heute die NS-Bezüge in ihrer eigenen Vergangenheit.
Im September stand Bundeskanzler Friedrich Merz weinend in einer Synagoge in München, mit einer Kippa auf dem Kopf. Gleichzeitig heroisiert er seinen eigenen Opa, der Bürgermeister eines Ortes in NRW war. Merz sagt, sein Opa sei kein richtiger Nazi gewesen. Gleichwohl ist Merz’ Großvater aber 1933 der SA beigetreten. Mitglied der NSDAP wurde er zwar erst 1937, aber ab 1933 gab es in der Partei einen Aufnahmestopp, weil so viele Deutsche Mitglied werden wollten. Und klar, Merz kann nichts für seine Vorfahren, aber als Politiker, der immer wieder bei solchen Gedenkveranstaltungen spricht, sollte er zumindest nicht die Mär verbreiten, sein eigener Opa sei kein Nazi gewesen.
Redaktion: Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Gabriel Schäfer, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger