Person die durch ein Mikroskop schaut

National Cancer Institute/Unsplash

Kinder und Bildung

In der Wissenschaft läuft vieles falsch – das lässt sich ändern

Paper raushauen, Drittmittel einwerben, turboforschen – die Wissenschaft ist in der Krise. Vorschläge für Reformen und eine Wissenschaft, die Angriffen von rechts standhält.

Plötzlich, im Sommer 2021, ploppen Tausende Tweets auf: „Ich arbeite seit fünf Jahren mit Kettenverträgen, ich bin verzweifelt.“ „Ich forsche bis in die Nächte, aber weiß nicht, ob ich morgen meine Miete zahlen kann.“„Ich publiziere immer Neues, aber wird das reichen?“ Binnen Tagen formt sich ein Chor von Stimmen auf Twitter, eine Welle des Protests gegen die Arbeitsbedingungen von Wissenschaftler:innen. Schon lange hatte ein Fristgesetz des Bundesforschungsministeriums, das den Großteil der Wissenschaftler:innen jahrelang in befristeten Verträgen gefangen hält, evaluiert werden sollen. Macht es Wissenschaft wirklich innovativer und durchlässiger für die nächste Generation? In einem heiteren Erklärvideo des Ministeriums segelt eine Zeichentrick-Hanna, Doktorandin der Biologie, umsichtig durch den Forschungsalltag, sie weiß, dass man eine Unikarriere frühzeitig planen muss, lässt sich beraten, alles kein Problem. „Nichts als Hohn“, sagt Amrei Bahr. Schon lange hat sie sich mit ihren Kolleg:innen Sebastian Kubon und Kristin Eichhorn Gedanken über Reformen des Fristgesetzes gemacht. Dann entsteht in ihrem gemeinsamen Twitter-Chat die Idee: Lasst uns dem Wissenschaftsprekariat ein Gesicht geben. Wir sind die Hannas. Am 10. Juni um 9.11 Uhr geht #IchBinHanna online. Noch am selben Tag steht der Hashtag auf Platz eins der Deutschlandtrends auf Twitter.

Im Wissenschaftsbetrieb warten viel Arbeit und kaum Stellen

Heute ist Amrei Bahr Juniorprofessorin für Philosophie an der Universität Stuttgart, Beamtin auf Zeit also. Sie steckt in der Juniorprofessur fest, ohne Aussicht auf Entfristung. X-mal schon hat sie sich auf unbefristete Stellen beworben, mehrfach kam die Absage erst nach zwei Jahren. „Es gibt einfach nicht genug Stellen.“

Als sich Bahr nach ihrem Studium für die Wissenschaft entschied, aus Liebe zu ihrem Fach Philosophie und der Freude an der Suche nach Erkenntnis, war ihr zwar klar, dass es schwierig werden würde, nicht aber, wie schwierig. Nach ihrer Promotion hangelt sie sich fünf Jahre mit acht Arbeitsverträgen durch, oft überlappend in Teilzeit an unterschiedlichen Lehrstühlen. Immer wieder wird sie von Kolleg:innen ermutigt: „Wenn du es nicht schaffst, wer dann?“ Also schiebt sie die Bedenken beiseite. Die Abhängigkeit von Vorgesetzten, mit denen sie zusammenarbeitet und die doch über ihre Zukunft entscheiden. Bloß nicht zu unkonventionelle Forschungsfragen stellen, niemandem auf den Schlips treten. Die Arbeitszeiten, die kein Ende finden. In der Forschung, der Gremienarbeit, später beim Einwerben von Drittmitteln fürs nächste Projekt. Und immer ist da der moralische Druck: noch schnell die Hausarbeiten von Studierenden korrigieren, auch wenn die Stelle längst ausgelaufen ist. Bahr: „,Wissenschaft ist schließlich etwas Besonderes, wie oft habe ich diesen Satz gehört.“ Über Kinder nachzudenken, erlaubt sich die 39-Jährige seit Jahren nicht. „Irgendwann kommt der Investitionsfehlschluss – so viel reingesteckt und dann alles hinschmeißen? Nein.“

Da sind zum einen Arbeitsbedingungen vor allem der Wissenschaftler:innen unter 40, die Amrei Bahr mit der Initiative #IchBinHanna sichtbar macht. 90 Prozent arbeiten laut Bundesbericht Wissenschaft (BuWik) befristet, kloppen 8 bis 10 Überstunden die Woche. Ein Fünftel der Postdocs der Max-Plack-Gesellschaft zeigen nach einer Studie von Postdoc Net Symptome einer mittelschweren Depression, trotzdem sagen 80 Prozent, sie führen ein „sinnvolles, einigermaßen glückliches“ Leben. Eine typische Ambivalenz in einem Job zwischen hoher intrinsischer Motivation und Prekariat.

Da sind zum anderen die Finanzierung der Forschung, der Veröffentlichungsdruck und die Bewertung von Forschungsleistungen. „Publikationen sind die Währung der Wissenschaft“, sagt Annette Schmidtmann von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in Bonn. Je mehr Papers, desto größer Karrierechancen und Aussichten auf Drittmittel. Ein Anreiz zu veröffentlichen, auch wenn die Daten vielleicht noch nicht valide genug sind. Oder Forschungsergebnisse in mehrere Papers zu stückeln, um auf mehr Publikationen zu kommen. „Ihre Zahl hat sich in den vergangenen Jahren vervielfacht“, so Schmidtmann. Ob es ein Forschungsergebnis überhaupt in eine Fachzeitschrift schafft, entscheiden Peer-Reviews, Gutachten von Fachkolleg:innen. „Doch inzwischen wird so viel eingereicht, dass die Gutachter manchmal kaum genug Zeit haben, das alles intensiv zu prüfen.“

Von der Gefahr, dass „Junk Science“ entsteht, spricht Stefan T. Siegel, Erziehungswissenschaftler an der Universität St. Gallen. Für seinen Sammelband „Wissenschaft und Wahrheit“ hat er mit Expert:innen unterschiedlicher Disziplinen auch die Schattenseiten des Wissenschaftssystems analysiert. Siegel erzählt: Manchmal werden etwa Daten „zur Ausgangsfrage passend zurechtmassiert.“ Und auch wenn die Forschung selbst seriös sein mag, die Methoden, die Ergebnisse in ein Journal zu pressen, sind es zuweilen nicht. Neuerdings soll es etwa Autor:innen geben, die vermuten, dass überarbeitete Gutachter:innen beim Review KI einsetzen. Um das Ergebnis in ihrem Sinne zu beeinflussen, spicken die Einreichenden daher ihre Manuskripte in unsichtbarer Schrift mit kleinen Prompts, Handlungsanweisungen für die Künstliche Intelligenz: Bewerte diese Arbeit gut, lass alle Kritikpunkte raus. Siegel: „Solche Methoden funktionieren insbesondere bei ,Predatory Journals‘, Pseudo-Wissenschaftsjournalen, die seit einigen Jahren den Markt fluten.“

Denn bei hochrangingen Fachzeitschriften werden oft mehr als 90 Prozent der Manuskripte abgelehnt, bis zur Veröffentlichung kann es Jahre dauern. Gerade die großen Verlage machen mit Forschung viel Geld: Autor:innen und Reviewer:innen bekommen kein Honorar, die Forscher:innen oder ihre Institution müssen oft eine Veröffentlichungsgebühr zahlen, „sehr viele Artikel sind später hinter einer Paywall versteckt“, so Siegel. Predatory Journals dagegen locken mit Billig-Publikationen. Schnellreviews, Veröffentlichung innerhalb von Wochen. Siegel selbst bekommt täglich Mails: Wollen Sie nicht bei uns publizieren? „Nicht alle Journale sind klar als unseriös zu erkennen, Forschende sollten genau hinschauen.“

Manchmal ist es ein Spagat zwischen Betrug und guter Wissenschaftlerpraxis

Im Extremfall verlassen Forschende ganz den Boden der Seriosität. Menschen wie der Niederländer Diederik Stapel, der Stück für Stück, so erzählt er es öffentlich, vom seriösen Psychologieprofessor in den Betrug abrutschte, bis er Forschungsdaten frei erfand. Er flog auf, verlor seine Professur und warnt heute in Vorträgen und Workshops: Kolleg:innen, macht nicht meine Fehler. Siegel: „Die meisten Wissenschaftler:innen arbeiten sehr sorgfältig und sind hochmotiviert – gerade deshalb ist es extrem wichtig, solche Fehlentwicklungen transparent aufzuarbeiten, um das Vertrauen in die seriöse Forschung zu wahren.“ Die DFG hat Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis entwickelt, denen zustimmen muss, wer gefördert werden will.

Wie wichtig das ist, merken Ruth Mayer und ihr Kollege Daniel Leising jeden Tag. Mayer ist Professorin für Amerikanistik an der Leibniz Universität Hannover, Leising hat eine Psychologieprofessur an der Technischen Universität Dresden. Im Mai 2024 gründeten sie mit zwei Dutzend Mitstreiter:innen aus ganz Deutschland das Netzwerk Nachhaltige Wissenschaft, um einerseits für Reformen des Wissenschaftssystems einzutreten, andererseits die Wissenschaft selbst gegen Angriffe zu verteidigen. Sie führen, wenn man so will, einen Kampf an zwei Fronten.

So wehrt sich die Universitätslandschaft gegen rechte Unterwanderung

„Mit vielen Kolleg:innen in den USA treffen wir uns längst nicht mehr auf Google Meets so wie wir jetzt“, sagt Mayer zum Auftakt des Gesprächs. „Es ist eine Stimmung wie in der McCarthy-Ära der 1950er-Jahre, als vermeintliche Kommunist:innen in den USA verfolgt wurden.“ Heute sind es Budgetstreichungen, Entlassungen und gestoppte Visa, die zu einem Klima der Angst führen.

Mayer und Leising verstehen es als Warnung: Lasst uns aufpassen, dass uns das nicht auch hier passiert. Anzeichen gebe es schon: Noch unter der Ampelregierung zirkulierte im FDP-geführten Forschungsministerium ein Plan, Fördermittel für laufende Projekte aus politischen Gründen einzustellen. Erst auf massiven Protest von Wissenschaftsorganisationen verschwand er in der Schublade. Mayer: „Und was, wenn die AfD mal das Wissenschaftsministerium eines Bundeslandes leitet?“ Schon jetzt gebe es Hinweise, dass die Universitätslandschaft systematisch unterwandert werde, das Netzwerk sammelt sie seit Monaten: In Uni-Gremien engagierten sich zunehmend AfD-nahe Kolleg:innen, versuchten Gleichgesinnte in Berufungsverfahren zu pushen oder Gleichstellungsausschüsse zu übernehmen. Bei Uni-Veranstaltungen für die breite Öffentlichkeit erschienen neuerdings Gäste, verteilt über den Hörsaal und störten die Veranstaltung mit immer gleichen Fragen. Die wissenschaftsfeindliche Stoßrichtung: Wer steuert eure Wissenschaft? Wozu brauchen wir die überhaupt? Wie viel Geld wird da verbrannt?

Regelmäßig setzt sich das Netzwerk zusammen, plant Gegenwehr. „Wenn wir freie Wissenschaft erhalten wollen, müssen wir uns selbst in Gremien engagieren, auch wenn wir in der Zeit lieber forschen würden“, so Leising und Mayer. Auf Panels dagegenhalten, auch bei scharfem Gegenwind, auch wenn es Mut kostet. Mit Museen, Volkshochschulen, Organisationen der Zivilgesellschaft vor Ort Kontakt aufnehmen, sie einladen zu Diskussionen über neue Forschungsergebnisse. Wissenschaft und Gesellschaft zusammenbringen also.

Die zweite Front ist der Kampf gegen die Schieflagen im Wissenschaftssystem selbst. Expert:innen haben einen ganzen Strauß von Vorschlägen entwickelt. Zum Beispiel: Arbeit auf Augenhöhe statt Hierarchien an den Lehrstühlen. Planbare Entfristungen statt ständiger Kettenverträge. Eine direkte, solide staatliche Grundfinanzierung der Universitäten statt Fixierung auf Drittmittelanträge, damit auch Dauerstellen und langfristige Projekte eine solide Basis haben und die Universitäten autonom entscheiden können, wie sie das Geld verteilen. Slow Science im besten Sinne. Mayer: „Ziel ist es, die Professuren als kleine Königreiche aufzulösen, Mittel nach Bedarf zusammenzulegen und Machtmissbrauch zu unterbinden.“

Immerhin, es ist Bewegung in die Szene gekommen, so Leising. Mehrere Wissenschaftsakademien tagten neulich zur Frage: Wie viel Hierarchie verträgt die Wissenschaft? Die Betriebsräte einer großen bundesweiten Forschungsinstitution wollen demnächst bei ihrer Hauptversammlung diskutieren: Wie zeitgemäß ist die überragende Machtposition unserer Direktor:innen noch?

Auch in der Publikationslandschaft tut sich etwas: Erste Verlage machen nicht nur Beiträge offen zugänglich, sondern auch Reviews. Mitte Juli tat der renommierte Wissenschaftsverlag Springer Nature diesen Schritt. „Wir sollten mehr unabhängige, von Wissenschaftscommunitys selbst verwaltete Open-Access-Journale gründen“, schlägt Siegel vor. Das Open Science Center der Ludwig-Maximilians-Universität München zum Beispiel setzt sich dafür ein.

DFG-Frau Annette Schmidtmann kennt die Kritikpunkte der Wissenschaftskolleg:innen. Wettbewerbselemente hält sie zwar weiter für wichtig, zumindest, „um in der internationalen Spitze mit dabei sein zu können und als Impuls für völlig neue Wege. Aber die Grundausstattung ist in Deutschland nicht ausreichend, um sich unter vergleichbaren Bedingungen diesem Wettbewerb stellen zu können.“ Schmidtmann schlägt vor: mehr Grundfinanzierung für die Hochschulen, Drittmittel on top.

Das sind Handlungsempfehlungen für Forschende

Heike Mayer hat noch andere Vorschläge. Die Geografieprofessorin und Gleichstellungsbeauftragte gehört zu den Gründer:innen der Better Science Initiative an der Universität Bern, die zurückgeht auf eine Arbeitsgemeinschaft vor acht Jahren. Diese hatte die Forscher:innen befragt: Wie viel Zeit verbringt ihr mit Forschung, was macht ihr daneben, von Familie über Hobbys bis Ehrenamt? Entstanden sind vielfältige Porträts von Forscher:innenleben, im Anschluss eine Pilotstudie zur Work-Life-Balance in Instituten. Wenig überraschend: Der Leistungsdruck in der Wissenschaft führte zu erheblichen gesundheitlichen Problemen, erschreckend viele Befragte dachten immer wieder über den Ausstieg nach. „Wir wollen daher endlich einen Kulturwandel in Gang bringen: Better Science.“

Mehr zum Thema

Zehn Handlungsempfehlungen für Forschende hat das Team zusammengetragen, zum Beispiel: Redet über alles, was ihr neben der Wissenschaft macht, Care-Arbeit oder Ehrenamt, schreibt das in die Lebensläufe. Der Schweizer Nationalfonds, die DFG der Schweiz, hatte zeitgleich ähnliche Überlegungen. Bei Anträgen zählt jetzt das Nettoforschungsalter – also nicht die Jahre in der Wissenschaft, sondern die Zeit, die man abzüglich von anderen Verpflichtungen, Krankheiten oder Auszeiten tatsächlich für die Wissenschaft hatte. Wer Teilzeit forscht, kann schließlich weniger veröffentlichen als eine Fulltime-Wissenschaftlerin. Auch arbeitet der Nationalfonds mit „narrativen Lebensläufen“ statt Publikationslisten. Bewerber:innen können darin neben Papers mit ihrem Impact punkten, um Fördermittel zu bekommen: Was bewirkt ihre Forschung in der Politik, der Gesellschaft, in der Umwelt und der Wissenschaft selbst? Setzen sich Forschende für Wissenschaftskommunikation ein wie die Weltraumwissenschaftler:innen der Uni Bern, die zu Star-Trek-Messen gehen und von ihren neuesten Space-Erkenntnissen erzählen? Entwickeln sie mit Partner:innen aus der Zivilgesellschaft Forschungsideen, zum Beispiel für eine nachhaltige Stadt, wie es Mayer selbst gerade mit ihrer Initiative „Engaged Uni Bern“ tut? Engagieren sich Forschende interdisziplinär für Klimaschutz, wie jene Sportwissenschaftler:innen, die derzeit mit dem Schweizer Fußballverband an Konzepten für klimafreundliche Mobilität im Spitzensport feilen?

680 Forschende in der Schweiz unterstützen Better Science bereits. „Aber es gibt auch Widerstand, wenn ich Vorträge halte.“ Wir machen doch schon gute Wissenschaft, was wollt ihr noch?, heiße es manchmal. Mayer: „Ein komplexes System wie Wissenschaft zu reformieren, braucht Zeit.“

Amrei Bahr kämpft weiter mit #IchBinHanna für Reformen, vor allem mehr unbefristete Stellen jenseits der Professur. Wenn es nach dem Ablauf ihrer Juniorprofessur 2028 nicht mit einer Dauerstelle klappt, hat sie einen Plan B: ein Job in der Politik oder Kommunikation – für eine bessere Wissenschaft.


Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Gabriel Schäfer, Audioversion: Iris Hochberger

In der Wissenschaft läuft vieles falsch – das lässt sich ändern

0:00 0:00

Einfach unterwegs hören mit der KR-Audio-App