Eine Gruppe Kindergartenkinder mit Betreuer:innen steht an einem Hafen und schaut auf die Schiffe. Im Hintergrund ist ein Berg zu sehen.

Eine Kindergruppe schaut bei der Kabeljau-WM zu. © Anna Lena Bercht

Klimakrise und Lösungen

Interview: Diese Wissenschaftlerin bricht mit einem Tabu der Wissenschaftswelt

Die Humangeographin Anna Lena Bercht hat Emotionen in ihrer wissenschaftlichen Arbeit lange unterdrückt. Dann sah sie in der Arktis, was der Klimawandel mit dem Leben der Menschen macht.

Profilbild von Leonie Sontheimer
Reporterin

Die Sozialwissenschaftlerin Anna Lena Bercht von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel scheint ein Klima-Mensch zu sein. Auf die Frage, wie ihr Sommer bisher war, antwortet sie, sie habe mit Sorge die Hitzewellen beobachtet. Auch ihren eigenen Wohnort misst sie daran: „Dank des Winds ist es in Kiel selbst bei über 30 Grad oft etwas erträglicher – dennoch bleibt Hitze für viele Menschen eine Herausforderung.“

Bercht ging schon in Kiel zur Schule, danach machte sie Stationen in den USA, Neuseeland, Wien, Hamburg, Berlin und Stockholm; sie forschte für längere Zeit in China und auf den Lofoten. Sie betreibt ethnologische Feldforschung, beschäftigt sich also mit Menschen, ihrem Verhalten und ihren Gefühlen. Ihre eigene Psyche hat sie als Forscherin viele Jahre eher hinten angestellt.

Das änderte sich im vergangenen Jahr. Sie brach mit einem Tabu der Wissenschaftswelt, die sich selbst als Hort der unpersönlichen Rationalität versteht. Bercht schrieb über die emotionale Belastung in der Klimaforschung. Ihr Aufsatz ging auf der Internet-Plattform Reddit viral.

Sie veröffentlichte neben diesem Aufsatz auch eine fiktive Kurzgeschichte in einem Sammelband namens „Klimageschichten“. Darin forscht die Protagonistin Juna auf den Lofoten und begleitet den Fischer Magnus. An einer Stelle heißt es: „‚Juna, der Klimawandel macht mir Angst‘, murmelt er leise. Er schaut Juna an. Juna sagt nichts. Stattdessen umarmt sie Magnus und hält ihn fest.“

Die erste Frage muss also sein:

Bist du Juna?

Etwas von mir steckt in Juna, aber sie ist nicht einfach ich. Als literarische Figur erlaubt sie mir, Erfahrungen und Dilemmata auszuloten, die im wissenschaftlichen Schreiben keinen Platz finden. Einiges ist fiktiv, anderes beruht auf tatsächlichen Erlebnissen.

Und? Hast du einen Fischer umarmt?

Nein. Ich hatte einmal diesen Impuls, habe ihn aber nicht umgesetzt. Das wäre in dem Fall übergriffig gewesen. Aber in der Geschichte, dachte ich, ist es möglich.

Was hast du auf den Lofoten gemacht?

Ich wollte nach meiner Promotion in China bewusst den Forschungskontext ändern und habe mich für die Lofoten, einer norwegischen Inselgruppe in der Arktis, entschieden. Es hat mich nicht überrascht, dort auf Klimaangst zu treffen – aber die Intensität war dennoch eindrücklich.

Ich habe 2015 vier Monate dort verbracht und mit Fischern und Stockfischproduzenten gesprochen. Die Art und Weise, wie der Kabeljau an der Luft ohne Konservierungsstoffe trocknet, ist in dieser Qualität nur auf den Lofoten möglich. Aber wenn es durch den Klimawandel zu warm und feucht wird, legen Fliegen ihre Eier in den Fisch und verderben ihn.

Ausgenommene Fische hängen über Stöcken

Anna Lena Bercht

Wenn man im Interview mit einem Stockfischproduzenten vor dem Kabeljau steht, seine Verzweiflung sieht – wie er schluckt, den Kopf schüttelt – dann erkennt man, wie jemand sich große Sorgen macht. Nicht nur um sich selbst, sondern um die gesamte Kultur, Wirtschaft und Identität der Inselbevölkerung.

Ich erinnere mich auch noch sehr genau an einen Moment während der sogenannten Kabeljau-WM im März. Das ist ein wahnsinniges Spektakel, da standen die ganzen kleinen Kinder mit Fischerhüten am Kai und haben begeistert den Booten zugeschaut. Und ich hab bloß gedacht: „Die werden noch so viel durchmachen müssen.“ Da war ich sehr bewegt.

Wie blicken die Fischer auf die Situation?

Über die Wochen habe ich gemerkt, dass verschiedene Identitäten eine wichtige Rolle spielen können. Wenn ich die Fischer zum Beispiel auf ihrem Boot oder am Kai interviewt habe, in ihrer Fischereikluft, stand häufig die soziale Identität im Vordergrund: Viele Fischer bezeichneten sich selbst als “Marine Cowboys”.

Sie waren stolz darauf, in einem der gefährlichsten Gewässer der Welt zu fischen und meinten, sie seien es gewohnt, sich mit Umweltgefahren auseinander zu setzen. Deswegen hätten sie auch vor dem Klimawandel keine Angst.

Wenn ich dieselbe Person jedoch später noch mal bei sich zu Hause interviewt habe, sagte sie plötzlich, ich habe große Angst vor dem Klimawandel, ich mache mir Sorgen, ob mein Sohn später noch als Fischer arbeiten kann. In solchen Momenten tritt dann die personale Identität in den Vordergrund. Also nicht mehr „wir Küstenfischer“, sondern „ich“ als besorgter Vater.

Arbeiter hängen Fische an einem Holzgerüst auf.

Der gefangene und ausgenommene nordostarktische Kabeljau wird paarweise zum Trocknen auf Holzgestelle aufgehängt. Die aufgeschlitzten Bäuche zeigen dabei zur wetterabgewandten Seite, damit möglichst wenig Feuchtigkeit (Regen) in den Fisch hineingelangen kann. Auf den Holzgestellen hängt er etwa bis Juni, bis er dann abgenommen und für weitere Monate in einer Lagerhalle zum Nachtrocknen gelagert wird. | Anna Lena Bercht

Findest du es problematisch, wenn du als Forscherin die Distanz verlierst?

Ich glaube, es birgt eine gewisse Gefahr. Ich verliere vielleicht das Gespür für die Situation, weil ich selbst emotional zu nah dran bin. In dem Moment, in dem ich mich stark mit einer Person identifiziere, stelle ich womöglich bestimmte Fragen nicht mehr.

Auf den Lofoten habe ich eine Biologin interviewt, die sich gegen den Walfang engagiert hat. Wir haben uns in einem Café getroffen, und ich fand sie sehr sympathisch. Aber sie hat mich darauf hingewiesen, dass jetzt vielleicht andere Menschen nicht mehr mit mir sprechen wollen, weil wir zusammen gesehen wurden.

Da wurde mir klar: Ich muss aufpassen, nicht ungewollt andere Perspektiven auszuschließen. Ich möchte ja auch die Stimmen hören, die den Walfang als Teil ihrer kulturellen Identität verteidigen – oder den Klimawandel infrage stellen.

Vergangenes Jahr ist ein Artikel erschienen, der für dich sehr wichtig war. Die Klimaforscherin Lisa Schipper hat darin mit Kolleginnen den Anspruch kritisiert, in der Klimaforschung immer objektiv sein zu müssen.

Als ich den Artikel von Lisa Schipper gelesen habe, hat das etwas in mir ausgelöst, das war ein Schlüsselmoment. Und ich dachte, da kann ich meine Perspektive gut ergänzen. Denn es sind nochmal ganz andere Emotionen, die entstehen können, wenn man im Feld forscht.

Welche Emotionen denn?

Zum Beispiel Angst. Ich habe zu Megacities promoviert und zwischen 2007 und 2011 insgesamt ein Jahr in der chinesischen Stadt Guangzhou gelebt. Zu der Zeit wurde dort der größte Bahnhof Asiens gebaut und ich habe untersucht, wie sich ein solches Megaprojekt auf die ländliche Bevölkerung auswirkt. Dabei ging es auch um Landenteignung, soziale Ungleichheiten, Machtmissbrauch und Korruption. Aufgrund der politischen Rahmenbedingungen war es schon damals eine Herausforderung, in China Feldforschung durchzuführen. Es war immer ein gewisses Maß an Angst da – vor Beobachtung, vor möglichen Konsequenzen, und davor, Menschen durch meine Fragen in Schwierigkeiten zu bringen.

Aber ich hatte auch Mitleid. Der Sohn einer Interviewpartnerin hatte starken Kalzium-Mangel und eine verkrümmte Wirbelsäule. Sie erzählte mir im Interview, dass ihr das viel Stress bereite. Ich habe wegen einer Sonnenallergie immer hochdosiertes Kalzium dabei. Das hab ich ihr dann gegeben.

Das sind Momente, in denen man in so ein Dilemma gerät: Was darf ich als Forscherin machen? Bewege ich mich da raus aus der wissenschaftlichen Rolle? Überschreite ich eine Grenze, wenn ich helfe – oder wäre es unmenschlich, es nicht zu tun?

Aber ist das nicht etwas, das schon seit Jahrzehnten im weitesten Sinne in den Geisteswissenschaften reflektiert wird – der eigene Standpunkt der Forschenden?

Ja, das stimmt. In der empirischen Sozialforschung lernen wir, unsere Rolle im Feld zu reflektieren: Welche Vorerfahrungen bringe ich mit? Welche Privilegien? Und wie wirkt es sich aus, wenn zum Beispiel weiße Personen in einem Kontext forschen, in dem vor allem Schwarze Menschen leben? Was bislang jedoch weniger Raum bekommt – insbesondere in den Klimawissenschaften – ist die emotionale Belastung, die mit bestimmten Forschungsthemen einhergehen kann.

Bist du denn mit deinem Vorstoß, die psychische Belastung zu thematisieren, auf harte Mauern gestoßen?

Nein, bisher nicht. Ich würde eher sagen, dass ich mich lange selbst zensiert habe, gerade in meiner Promotionsphase. Auf Konferenzen und besonders in Gesprächen mit Kolleg:innen aus den Naturwissenschaften habe ich mich zurückgehalten, das Thema zu vertiefen. Das liegt auch daran, dass es in interdisziplinären Forschungskontexten immer noch vorkommt, dass qualitative Sozialforschung nicht als gleichwertig anerkannt wird und Professionalität und Emotionalität als Gegensätze gelten.

Gerade für Nachwuchswissenschaftler:innen kann es dann heikel sein, auch noch das Thema psychische Belastung aufzubringen. Aber jetzt habe ich den Eindruck, dass auch Kolleg:innen aus den Naturwissenschaften erleichtert sind, dass wir das Thema aufbringen.

Ein Fischerdorf in der Arktis. Rote Holzhäuser stehen auf Stehlen direkt am Wasser. Dahinter sieht man die Holzgerüste mit dem Kabeljau. Im Hintergrund sind Berge zu erkennen.

Anna Lena Bercht

Ihr fordert, dass Emotionen systematisch im Wissenschaftsbetrieb adressiert werden. Wie sollte das konkret aussehen?

Idealerweise sollte das Thema fest im Curriculum verankert werden – das versuchen wir hier in Kiel gerade anzustoßen. Zum Beispiel in Vorlesungen zur empirischen Sozialforschung sollte vermittelt werden, dass emotionale Belastungen im Feld Teil des Forschungsprozesses sein können.

Gleichzeitig sollten Studierende Kompetenzen im Umgang mit belastenden Emotionen entwickeln können – etwa durch Reflexionsübungen, begleitende Supervision oder den Austausch in geschützten Räumen. Viele Studierende schreiben ihre Abschlussarbeiten in herausfordernden Kontexten – für sie ist es wichtig zu wissen, dass Gefühle wie Schuld, Trauer, Wut oder Verzweiflung legitim sind und dass sie damit nicht allein sind.

Über Mentoring-Programme könnten sowohl Studierende als auch Forschende auf Ansprechpersonen zurückgreifen, wenn sie während der Feldforschung – oder darüber hinaus – auf Schwierigkeiten stoßen. Man wird vielleicht nicht für jede belastende Situation sofort eine Lösung finden. Aber schon das Wissen: Ich werde gesehen und mein Problem wird ernst genommen, kann enorm hilfreich sein.

Zudem wäre es wünschenswert, wenn es regelmäßig institutsinterne oder universitätsweite Workshops gäbe. Anhand konkreter Fallbeispiele ließe sich dort gemeinsam erarbeiten, welche Strategien im Umgang mit psychischer Belastung hilfreich sein können.

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Sollte das verpflichtend sein?

Ich würde die Workshops nicht verpflichtend machen. Es gibt ja auch Menschen, die gut mit belastenden Situationen zurechtkommen und keine zusätzliche Unterstützung benötigen. Wichtig ist, dass das Thema nicht überpathologisiert wird.

Und wären die Angebote nur für die Klimawissenschaften? Es gibt ja auch andere Forschungsbereiche, die sehr belastend sein können. Sagen wir, Mediziner:innen, die Daten zu seltenen Krankheiten erheben oder Konfliktforscher:innen.

Absolut. Wenn ich von Änderungen der Strukturen spreche, beziehe ich das nicht ausschließlich auf die Klimaforschung. Einige meiner Kolleg:innen forschen zum Beispiel zu Obdachlosigkeit, sexualisierter Gewalt, Armut oder Migration. Da gibt es viele Themen, die emotional belastend sein können. Wenn ich in der Uni einen Workshop zu emotionaler Belastung organisieren würde, dann wäre der für alle offen.

Verstehe ich dich richtig, dir geht es nicht darum, dass Wissenschaftler:innen ihre Emotionen in ihren Veröffentlichungen mehr thematisieren?

Genau. Persönliche Betroffenheit und emotionale Reaktionen können dort mit erwähnt werden, wo Forschende ihre eigene Rolle transparent machen, sind aber für die Veröffentlichung meist nicht zentral. Mir geht es nicht darum, persönliche Überforderung oder Selbstmitleid in den Vordergrund zu stellen, sondern vielmehr darum, im gesamten Forschungsprozess Räume für Austausch und Reflektion zu schaffen. Mentale Gesundheit ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Menschen diese Forschung weiter betreiben können.


Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Isolde Ruhdorfer, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

Diese Wissenschaftlerin bricht mit einem Tabu der Wissenschaftswelt

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