Durch ein großes Ladenfenster sieht man in eine Metzgerei hinein. Draußen ist es dunkel.

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Sinn und Konsum

Ich war 27, als ich die Metzgerei meiner Familie erbte

Plötzlich war ich da, wo ich nie hinwollte.

Profilbild von Lars Lindauer
Reporter

Ich muss diesen Weg Tausende Male gegangen sein. An diesem Donnerstag vor zwei Jahren ging ich ihn ein letztes Mal. An der Haltestelle Mühlacker stieg ich aus. Ging an der alten Ziegelei vorbei, mit der alles begann. Den Berg hoch, über den Kreisverkehr. Rechts abbiegen und da stand ich vor ihr: der Metzgerei Lindauer.

Die Ladenbeleuchtung schien auf den dunklen Parkplatz vor dem Gebäude. An der Türscheibe klebte ein Blatt Papier: Diese Filiale wird ab Freitag, 1. Dezember 2023 endgültig geschlossen sein. Die Verkäuferinnen Diana und Sabine winkten mir zu, als ich durch die große Glastür kam. Drinnen roch es nach Wurst und alkoholhaltigen Reinigungsmitteln. Willkommen daheim. Es war der 30. November 2023, kurz vor halb fünf. Um 18 Uhr wird die Metzgerei meiner Familie nach 96 Jahren für immer schließen. Damit wird die Geschichte dieser Firma enden, die auch mal mir gehört hatte. Heute, zwei Jahre später weiß ich: Geschichte endet nicht.

In diesem Laden wurden tonnenweise Salami, Fleischkäse und Kartoffelsalat verkauft. Unzählige Kunden fragten nach Garzeiten und erzählten Geschichten von ihren Enkelkindern. Generationen von Verkäuferinnen (und ein paar Verkäufern) standen hinter der Theke. Unten hieß es: Guten Morgen, guten Appetit, schönes Wochenende, schöne Weihnachten. Oben in der Wohnung lebte ich mit meiner Familie. Meine Brüder und ich sind aufgewachsen zwischen Wursttheke und Büro. Die Mitarbeiter:innen der Firma kenne ich länger als meine besten Freund:innen.

Aber dort, wo Schweinefiguren aus Ton aus Schaufenstern starren und hellgestreifte Kittelschürzen gängige Arbeitskleidung sind, kaufen vermutlich die wenigsten Fleischfans noch ein. Die meisten gehen in den Supermarkt. Dabei sind diese kleinen Betriebe Treffpunkte, Identifikation und Distinktion. Du bist, was du isst. Nun verschwinden viele kleine Firmen. Nicht einmal 10.000 Metzgereien gibt es noch in Deutschland. 2002 waren es noch doppelt so viele. Die Metzgerei meiner Familie ist einer dieser verschwundenen 10.000 Betriebe.

Als Kind habe ich die Metzgerei gehasst. Ich schämte mich dafür, der Metzgerjunge zu sein. Nach dem Tod meines Vater musste ich sie gemeinsam mit meinen Brüdern übernehmen und führen. Das Erbe war eine Bürde. Von der wir nicht einmal dann erlöst wurden, als wir die Metzgerei verkauften. Sie war mein Zuhause, Teil meiner Familie und Erinnerungsort, nachdem meine Eltern gestorben waren. Als ich dort arbeitete, war es wie Therapie. Seit zwei Jahren ist die Metzgerei geschlossen und ich merke, ich vermisse sie manchmal. Darum will ich mich von ihr verabschieden.

Die Betriebsfamilie

Die Metzgerei Lindauer war die Metzgerei. Menschen kamen aus der ganzen Region für die Senderstädter Bratwürste zum jährlichen Stadtfest. Wer Besuch bekam, tischte Fleisch von Lindauer auf. Meine Familie und die Angestellten waren stadtbekannt. Obwohl es hier auch andere Metzgereien gab, war der Name „Lindauer“ über viele Jahrzehnte eng mit der Geschichte der kleinen Stadt verbunden, aus der ich komme.

Eine alte Fotografie zeigt das Wohngebäude mit dem Laden im Erdgeschoss.

In den 1960er Jahren gab es neben Wurst auch Softeis. | Quelle: Privat

Meine Urgroßeltern gründeten den Betrieb 1927 als Betriebskantine der Ziegelei. Als ihr Sohn, mein Opa, 27 Jahre alt war, starben die beiden bei einem Verkehrsunfall. Also übernahm mein Opa mit seiner Frau die Firma. 1953 war das. Ihre beiden Kinder, meine Tante und mein Vater, mussten früh in den Betrieb einsteigen. Mein Vater hat immer gesagt, seine Kinder sollen es mal anders haben. Er hat unter dem Zwang gelitten, die Rolle seines Vaters übernehmen zu müssen. Gehalten hat er dieses Versprechen nicht.

Ende der 1970er Jahre lernte mein Vater meine Mutter kennen. Sie heirateten, zogen in die Wohnung über dem Laden und arbeiteten in der Metzgerei. Die Nähe zum Arbeitsort scheint praktisch zu sein. Nah dran sein heißt aber auch, nie wirklich zu gehen. In unserer Wohnung spürte man die Maschinen aus der Produktion rattern. Wir hörten, ob die Metzger Pause machten oder arbeiteten. Vom Balkon aus sahen wir, wie viele Autos vor dem Laden standen. Wenn viel los war, drang das Gemurmel aus dem Laden nach oben. Ganz still war es nur samstagnachmittags und sonntags – bis abends Schweine geliefert wurden.

Das Erbe

Ich war vielleicht 12 oder 13 Jahre alt. Da stand das riesige Tier einfach vor mir. Rosa und kaute etwas. Montags um 4 Uhr morgens wurden Schweine in der Metzgerei geschlachtet. Meistens zwölf bis 16 Tiere. Warum das Schwein an diesem Morgen noch lebte, weiß ich nicht. Ich hatte mir abgewöhnt nachzufragen. Ich erinnere mich, wie mal ein Rind abgehauen ist und die Metzger dem Tier hinterhergerannt sind. Mir war das alles hochnotpeinlich. Die Eltern meiner Freunde waren Angestellte bei Versicherungen oder hatten ein Autohaus. Normale Jobs. Ich war der seltsame Typ mit den toten Tieren und der ganzen Wurst. Ich hatte immer Angst, nach Wurst zu riechen.

Diese letzte Schicht am 30. November 2023 teilten sich die Verkäuferinnen Diana und Sabine. Es war ein Donnerstag. Diana arbeitete seit 17 Jahren hier, Sabine seit etwa drei Jahren. Die zehn Meter lange Kühltheke, die fast den ganzen Verkaufsraum einnimmt, war zu einem Drittel gefüllt. Ein wenig Wurst, Salami und Geräuchertes waren noch da. An den Hängestangen vor den weißen Fliesen hingen eine ganze Salami und ein Paar geräucherte Bratwürste. Die letzten ihrer Art.

Dieser Laden und die Einrichtung sind so vertraut. Seit der Laden Ende der 1960er Jahre gebaut worden war, wurde ein wenig renoviert, aber eigentlich sah alles aus wie immer. Nur auf dem schwarzen Fliesenfußboden klebten noch die Reste der schwarz-gelben Abstandsmarkierungen aus der Zeit der Corona-Pandemie.

Wer in einem Familienbetrieb aufwächst, wird eins mit der Firma. Wir aßen im Pausenraum der Angestellten zu Mittag, ich machte im Büro meine Hausaufgaben und als Kind spielte ich mit meinen Freund:innen im Hof neben dem Lieferfahrzeug und half der Putzkraft Frau Wetter dabei, den Laden zu wischen. Man verwächst mit den Mitarbeiter:innen, den Produkten und den Öffnungszeiten. Eigentlich müsste es Betriebsfamilie heißen, nicht Familienbetrieb.

Mit Anfang 20 zog ich zum Studieren weg. Ich war froh, als ich endlich gehen konnte. In den Jahren vor meinem Auszug hatte ich schon versucht, mich von der Metzgerei zu distanzieren. Ich interessierte mich für Design, Medien und Klamotten. Die Firma, Landwirtschaft und alles, was dazu gehörte, waren mir betont egal. Ich versuchte, so wenig wie möglich dort zu sein.

Nach meinem Umzug war ich nur noch selten zuhause. Ich hatte meinen ersten Partner, wir zogen zusammen. In dieser Zeit war ich nur noch dafür zuständig, die Website der Metzgerei zu aktualisieren. Nach dem Studium in Stuttgart zog ich nach Hamburg. Ich fing einen Job in einer Werbeagentur an. Die Metzgerei war hier egal. Meine Mutter hörte ich eigentlich nur am Telefon, mit meinem Vater hatte ich kaum Kontakt. Das war 2011.

Einige Jahre später, 2014, als ich 27 Jahre alt war, starben beide meine Eltern kurz nacheinander an Krebs. Meine Mutter hatte ich eine Weile gepflegt. Bei meinem Vater verlief die Krankheit sehr schnell. Im August wurde Leberkrebs diagnostiziert, im Januar darauf starb er. Es wirkte, als hätte er keine Lust und Kraft mehr zu kämpfen. Nach der Testamentseröffnung war klar: Ich und meine Brüder erben die Metzgerei.

Die Nachricht

„Hi Lars, ich gehe am Donnerstag nach fast 17 Jahren das letzte Mal in den Laden. Heute haben wir es offiziell erfahren. Ab dem 1. Dezember bleibt der Lindauer geschlossen. Liebe Grüße.“

Es war Dienstag, als Dianas Nachricht auf meinem Handy aufleuchtete. Die Nachricht schmerzte, aber sie überraschte mich nicht. Ich spürte, dass ich nochmal hinfahren wollte. In der Metzgerei galt ich immer als der Verständnisvolle von uns drei Brüdern. Weil ich für die Personalplanung verantwortlich war, habe ich viel vom Leben der Mitarbeiter:innen mitbekommen. Ich wusste, wer gerade Besuch von den Schwiegereltern hatte, welcher Ehemann den Job verloren hat und wo die Kinder studierten. Ich habe mir diese Geschichten gerne angehört. Der Besuch in der Metzgerei ist die letzte dieser Geschichten für mich.

Ich freute mich darauf, nach Mühlacker zu fahren. Ein letztes Mal Hallo zu sagen und Erinnerungsfotos zu machen. Alles nochmal abzuspeichern, bevor es weg sein wird.

Ein Schwarz-Weiß-Foto eines Paares hinter der Theke einer Metzgerei. Beide lächeln in die Kamera.

Meine Großeltern und das volle Wurstgehänge | Quelle: Privat

Während die Verkäuferinnen im Laden die letzten Kund:innen bedienten, ging ich durch die Räume der Metzgerei. Die Küche, in der morgens um 5.30 Uhr frischer Kartoffelsalat zubereitet wurde. Die kleine Treppe, wo die Mitarbeitenden nach Schichtende ihre schmutzige Arbeitskleidung ablegten. Sie ist der Übergang zu dem Teil des Betriebes, wo meine Großeltern wohnten und der darum immer noch ein wenig wie eine Wohnung aussieht. Dort ist der Sozialraum mit der hässlichen braunen Eckbank und dem Tisch, wo die Metzger sich jeden Morgen zum Vesper trafen. Der Gewürzraum, in dem früher ein Fernseher stand, worauf ich als Kind Nickelodeon nach der Schule schaute. In den Metallregalen standen ein paar letzte Wurstkonserven. Die Bio-Produkte, die hier früher gelagert wurden, wurden durch günstigere Marken ersetzt. Ketchup und Essig von Penny. Paprikastreifen im Glas von Kühne. Am Ende des Flurs, vor der Tür ins Büro, standen die Gummistiefel des ehemaligen Chefs. Als käme er gleich wieder. Auf den Stiefeln kritzelte er seine Initialen mit Filzstift: M.T.

Die Verantwortung

Nachdem wir 2014 das Testament eröffnet hatten, war ich wütend. Mein Vater hatte seine Anteile an der Firma zu gleichen Teilen an mich und meine Brüder vererbt. Er hatte nie gefragt, ob wir darauf Lust hätten und bereit wären, die Verantwortung zu übernehmen. Sven, einer meiner älteren Brüder, war gerade auf Weltreise, der andere arbeitete Vollzeit. 30 Mitarbeitende erwarteten, dass sich jemand um sie und die Firma kümmern würde. Gehälter bezahlt, Bestellungen abnickt, Wurst verkauft. Ich spürte eine Verantwortung. Der Name auf den Tüten war mein Nachname. Alle schauten auf uns. Nein sagen war keine Option. Also machten wir uns an die Arbeit. Mein Bruder Sven, der einzige gelernte Metzger unter uns drei, wurde Geschäftsführer.

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Zuerst regelte ich die Geschäfte von Hamburg aus. Meine Brüder und ich schickten uns Vollmachten und Verträge hin und her. Nach ein paar Wochen war aber klar, dass das nicht funktionierte. Also nahm ich unbezahlten Urlaub und zog zurück nach Hause. Ich schlief in unserer alten Wohnung. Erst im alten Bett meiner Mutter, bis ich ein eigenes hatte. Unter meinem Zimmer rumpelte die Metzgerei, die jetzt meine war.

Plötzlich war ich da, wo ich nie sein wollte. Es sollte nur vorübergehend sein, vielleicht ein oder zwei Jahre. Wir wollten die Firma schnell verkaufen. Es wurden sechs Jahre.

Nach drei Jahren kaufte sich mein Bruder Sven mit seiner Freundin einen Bauernhof und machte sich selbstständig. Ich blieb mit meinem ältesten Bruder. Er kam am Wochenende und abends, ich tagsüber. Mein Job war die Personalplanung, Abrechnungen und das Organisatorische. Eigentlich redete ich die ganze Zeit. Ich nahm Bestellungen am Telefon an, klärte die Einsatzplanung ab, schlichtete Streit in der Urlaubsplanung. Im Laden half ich nicht mit. Die Kunden hatten Fragen zu meinen Eltern und wollten wissen, wie es mit der Firma weiterging. Es waren unangenehme Fragen, auf die ich keine gute Antwort hatte.

Nur ab und zu, wenn keiner der Angestellten Zeit hatte, fuhr ich Partyservice-Bestellungen aus. Dann saß ich im Lieferwagen der Firma mit dem großen Logo auf der Schiebetür hinten, die Ladefläche voll mit warmem Fleischkäse, Spätzle oder Spanferkel in Chafing-Dishes, den silbernen Geräten zum Warmhalten von Speisen. So bretterte ich über die Landstraßen in die Vereinsheime und Wohnzimmer. Spaß hatte ich, wenn ich beim Fahren laut Musik hören und mitsingen konnte. Dann lief vorne Britney Spears und hinten auf der Ladefläche die Bratensoße aus.

Der Verkauf

Ende 2019 verkauften wir endlich die Metzgerei. Während des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 saßen wir beim Notar. Lange hatten wir auf diesen Termin hingearbeitet. Dann dauerte er keine Stunde. Was würden wohl die Mitarbeiter:innen sagen? Die Kund:innen? Die Verwandtschaft? Die meisten hatten Verständnis dafür, dass wir die Firma, die wir nie wollten, verkauften. Ich hatte damals aber auch das Gefühl, dass sich viele gewünscht hatten, dass wir für immer bleiben würden.

Anfangs war die Arbeit in der Firma wie Therapie für mich. Der Tod meiner Eltern spielte über die Jahre eine immer kleinere Rolle. Ich war traurig, dass meine Eltern gestorben waren. Überfordert und genervt von den Ansprüchen an mich. Doch über die Jahre hatte ich mich an die Arbeit gewohnt. Sie war anstrengend, aber auch vertraut. Wir, die Angestellten, die Kund:innen, ich und meine Brüder, hatten einen guten Rhythmus gefunden. Mich davon zu verabschieden, erinnerte mich an den Tod meiner Eltern.

Es verging ein Jahr, dann meldeten sich Mitarbeitende, ehemalige Kund:innen und Geschäftspartner bei mir. Die Qualität der Produkte habe nachgelassen, die Lieferanten bekämen ihr Geld verspätet. Ich versuchte, die Menschen zu besänftigen. Sie sollen der neuen Geschäftsführung Zeit lassen. Ein gutes Gefühl hatte ich trotzdem nicht.

Nach etwas mehr als zwei Jahren bemerkten wir, dass sich die Mietzahlungen für die Gewerbeflächen, die der neue Inhaber bei uns mietete, immer wieder verspäteten. Erst waren es nur ein paar Tage. Dann Wochen. Irgendwann kam gar keine Miete mehr. Wir telefonierten und schrieben Mahnungen. Immer wieder wurde uns versprochen, dass das Geld morgen da sein würde. Selten kam es wirklich. Im Herbst 2023 war die Firma zahlungsunfähig. Ein Insolvenzverwalter wurde eingesetzt, nach einer Weile stand fest: Am 1. Dezember 2023 ist Schluss.

Der Joker

Zehn Jahre zuvor, 2014, waren wir an einem ähnlichen Punkt gewesen. Wie sollte es ohne meinen Vater, den Geschäftsführer, mit der Metzgerei weitergehen? Als er krank wurde, hatten viele meinen Bruder Sven als seinen Nachfolger gesehen. Weil er damals in der Schweiz lebte, wurde er als „Joker in der Schweiz“ bezeichnet. Als Kind genoss er die Zeit in der Metzgerei und ging mit unserem Opa zum Tiere anschauen. Später machte er eine Ausbildung zum Metzger bei unserem Vater. Danach ist er zum Studieren weggezogen. Er hatte immer gesagt, dass er die Metzgerei nicht übernehmen möchte. Das hatte er sogar in einem Brief an meine Eltern und Großeltern geschrieben.

Eine alte Fotografie zeigt die Fassade des hauses mit dem Logo der Metzgerei Lindauer daran.

Wohnen und Arbeiten in einem: die Metzgerei und direkt darüber unsere Wohnung | Quelle: Privat

Ich erinnere mich nicht, dass wir jemals darüber gesprochen haben, warum er das nicht wollte. Ich fragte ihn, ob wir telefonieren können. Als er mich am nächsten Morgen anruft, sitzt er in einem ruhigen Zimmer auf seinem Bauernhof in Hessen. Er hat nicht viel Zeit. Es ist nicht leicht, ihn ungestört ans Telefon zu bekommen. Auf so einem Betrieb will immer jemand was von einem. Heute werden wir nur einmal kurz unterbrochen.

„Warum wolltest du die Firma damals nicht haben?“
„Ich wollte nicht jeden Tag in einer Metzgerei stehen. Ich wollte Landwirt sein.“
Als wir den Laden geerbt hatten, war er trotzdem gekommen.
„Hast du damals geahnt, dass es so lange dauern würde, bis wir die Firma verkaufen?“
„Nein. Mir war nicht klar, was passieren wird. Mit dem Wissen von heute würde ich die Rolle von unserem Vater nicht nochmal annehmen.“

Er sagt, heute bekäme er Beklemmungen, wenn er mit dem Zug durch unseren Heimatort fahren müsse. Ich kenne dieses Gefühl. Doch während ich früher gar nichts mit der Firma zu tun haben wollte, fände ich es heute schön, wenn es sie noch gäbe.

Der Abschied

„Ich werde sie vermissen“, sagte ein Kunde zu Diana, ein paar Minuten bevor sie an diesem Donnerstag für immer abschließen wird. „Ich kenne Sie mein Leben lang“, antwortete Diana unter Tränen. Dann kam Herr Müller. Der Mann, vielleicht um die 80, kaufte ein wenig Wurst und etwas vom Schweinerücken. Drei selbstgemachte Wurstdosen standen noch auf der Theke, die nahm er auch mit. „Sie waren jetzt mein letzter Kunde“, sagte Diana. Herr Müller sagte nichts.

Nachdem die Tür hinter dem letzten Kunden zugefallen war, nahm Diana drei gekühlte Piccolo-Fläschchen Sekt aus dem Küchenkühlschrank. Es war still. Ein Moment wie aus einem Film. Der Laden war noch da, aber das ganze Leben darin war weg. Keine Fleischkäsewecken mehr mit Senf, keine Durstlöscher aus der Kühltheke, keine Rinder, die abhauen, kein Vater an der Fleischtheke, keine Mutter an der Wurst.

Ich dachte, wenn die Firma schließt, geht auch diese Verpflichtung weg. Heute weiß ich, das stimmt nicht. In fast jedem Telefonat mit meinem Bruder geht es um die Metzgerei Lindauer. Wir sprechen über alte Geschichten und neue Mieter. Reden wir über unsere Eltern, darüber, wie sie im Geschäft arbeiteten. Darüber, dass wir heute eigentlich nur Brüder sein möchten, aber immer auch Geschäftspartner sind. So muss es unserem Vater und seinen Eltern auch gegangen sein.


Redaktion: Astrid Probst, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger

Ich war 27, als ich die Metzgerei meiner Familie erbte

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