Personen die sich Umarmen

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Leben und Lieben

Was wir über Freundschaft neu lernen müssen

Freundschaften machen nachweislich glücklicher als Beziehungen allein. Tipps von Expert:innen und der KR-Community, wie du deinen Freund:innen den Platz einräumst, den sie verdienen.

Profilbild von Nina Roßmann
Gesellschaftsreporterin

Katarina und Olivia führen eine Fernbeziehung. Mit allem, was dazugehört: Endlose Bahnfahrten, Verspätungen und überfüllte Züge – was man eben so auf sich nimmt, um die andere Person endlich wieder in die Arme schließen zu können. Allerdings sind die beiden kein Paar im klassischen Sinne. Sie sind Freundinnen.

450 Kilometer trennen die beiden. Doch trotz zeitintensiver Jobs und Familie – beide haben romantische Beziehungen, Katarina außerdem eine erwachsene Tochter und einen Sohn im Teenageralter – setzt sich eine von beiden jedes vierte Wochenende für dreieinhalb bis fünf Stunden in den Zug, um die andere zu besuchen.

„Wenn ich über ein Thema nachdenke, frage ich mich sofort, was Olivia davon denkt“, berichtet Katarina am Telefon. „Wenn wir uns dann sehen, pitchen wir uns gegenseitig unsere Ideen und Theorien zu einem bestimmten Thema. Olivia ist meine Ratgeberin und Kritikerin. Ich will unbedingt wissen, was sie denkt. Ihre Meinung ist mir wahnsinnig wichtig. Wir können uns stundenlang über Filme und Serien auslassen, reden über unsere Beziehungen, unsere Jobs, unsere Zukunftspläne, wie wir uns unser Leben im Alter vorstellen.“

Katarina und Olivia kennen sich aus dem Studium. Das ist nun mehr als 30 Jahre her. Die Anziehung war sofort da, und eine enge Freundschaft entstand. Sie zogen nach dem Studium in unterschiedliche Städte und sahen sich dann zehn Jahre lang nur in großen Abständen. Seit rund 20 Jahren haben sie wieder regelmäßig Kontakt, seit fünf Jahren treffen sie sich jeden Monat für ein Wochenende. Beide haben Partner:innen, Katarinas Kinder kennen Olivia seit ihrer Geburt.

Ihre Geschichte zeigt: Man kann ebenso in Freundschaften investieren wie in romantische Beziehungen. Nur machen das nur wenige. Denn es ist in unserer Gesellschaft nicht vorgesehen. Romantische Beziehungen sind das Maß aller Dinge. Sie werden gefeiert, inszeniert, sind rechtlich anerkannt. An ihnen arbeitet man, Freundschaften passieren nebenher.

Das muss sich ändern, findet Andrea Wieneke. Sie ist systemische Therapeutin in Hamburg und bietet Freundschaftsberatungen an. „Wir sollten uns nicht mehr so sehr von Paarbeziehungen abhängig machen“, sagt sie.

Aber wie geht das konkret? In einer Umfrage habe ich die KR-Community gefragt: Was bedeuten euch Freundschaften? Und wie kann man sie aufwerten? Ich habe viele interessante Antworten bekommen und weiß jetzt, warum feste Freunde-Dates nur ein Teil der Lösung sind.

Platonische Lebenspartner:innen: Sind wir nicht alle ein bisschen poly?

Rhaina Cohen hat das Buch „The other significant others“ geschrieben. Auslöser dafür war, dass auch sie selbst eine sehr enge Freundin hatte (sie nennt sie „M.“). Sie beschreibt, wie M. vier Monate nach Beginn ihrer Freundschaft ein Telefonat mit ‚I love you‘ beendet. Cohen schreibt daraufhin in ihr Tagebuch: „Ich weiß gar nicht, wie ich unsere Freundschaft anderen beschreiben kann.“

Ein Bekannter sagte ihr, sie solle doch einfach sagen, sie lebe polyamorös. Das treffe es nicht, findet sie, schließlich haben M. und sie keinen Sex. Trotzdem freute sie sich über den Kommentar des Bekannten: Immerhin hatte er erkannt, dass ihre Freundschaft zu M. einer romantischen Beziehung stärker ähnelt als einer üblichen Freundschaft.

Für ihr Buch hat sie mit weiteren Freundes-Paaren gesprochen, die ebenfalls sehr enge Bindungen zu mehr als einem Menschen pflegen. Darin nutzt die Bezeichnung „platonic life partner“, um diese Art von engen Beziehungen zu beschreiben. Einige dieser Menschen treffen wichtige Lebensentscheidung mit ihrem oder ihrer platonischen Lebenspartner:in, ziehen etwa ein Kind gemeinsam groß oder bauen ein Haus zusammen. Viele haben neben ihrem platonischen besten Freund noch einen romantischen Partner.

Im Mittelalter waren Freundschaften gesellschaftlich anerkannt

Eine solche enge Freundin kann die Welt bedeuten. Gesellschaftlich zählt sie aber nicht. Zumal, wenn man Single ist.

Das war lange Zeit ganz anders, wie Rhaina Cohen in ihrem Buch beschreibt.

Zeugnis davon gibt ein Grab aus dem 14. Jahrhundert. In einer Kapelle in Oxford liegen John Bloxham und John Whytton begraben – nebeneinander, wie ein Ehepaar. Es gibt noch mehrere solcher Grabstätten, in denen gleichgeschlechtliche Paare gemeinsam beerdigt wurden.

Für den Historiker Alan Bray schien die Sache zunächst klar: Es gab im Mittelalter bereits gleichgeschlechtliche Ehen. Jahrzehntelang glaubte er an diese These, dann revidierte er sie. Bloxham und Whytton waren nicht schwul. Sie lebten eine Beziehungsform, die in Vergessenheit geraten ist.

Sie waren „Schwurbrüder“ – eine im Mittelalter weit verbreitete und kirchlich anerkannte Form der Freundschaft zwischen zwei Menschen, die sich in einem offiziellen Ritus zu lebenslanger Unterstützung verpflichteten – unabhängig davon, ob sie gleichzeitig auch verheiratet waren.

Wer ein Netzwerk an engen Beziehungen hat, ist glücklicher

Schwurbruderschaften sind in Vergessenheit geraten, dabei zeigen verschiedene Studien, wie sinnvoll sie auch heute wären. Denn Menschen, die ihre emotionalen Bedürfnisse über verschiedene Beziehungen stillen, sind glücklicher. Wie viele und enge Freund:innen wir haben, ist der beste Indikator für die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden einer Person, ja sogar für ihr Sterberisiko, sagt der bekannte Freundschaftsforscher Robin Dunbar. Und eine Studie aus dem Jahr 2017 zeigte: Menschen, die neben ihrer Ehe häufiger ihre Freund:innen trafen, hatten weniger depressive Symptome – ebenso wie ihre Ehepartner:innen.

Die Freundschaftsberaterin Andrea Wieneke sieht das ähnlich. „Den meisten Menschen ist nicht bewusst, wie wichtig Freundschaften sind. Sie können sogar wichtigere Ankerpunkte sein als Partnerschaften.“ Über Freundschaften könne man sich ein Netzwerk von Beziehungen aufbauen, bei denen verschiedene Menschen unterschiedliche Bedürfnisse erfüllen können. „Wenn andersherum jedoch die Erwartung besteht, dass eine Person alle Bedürfnisse der anderen erfüllen muss, kann das auch eine Überforderung für eine Paarbeziehung darstellen.“

Klingt logisch: Wenn der Partner alles sein muss: Liebhaber, Co-Parent, bester Freund und intellektueller Sparringspartner, überfrachtet das nicht nur die Beziehung – es macht sie zur Echo-Kammer, in der man nur die eigenen Ansichten gespiegelt bekommt.

„Unterschiede sind in Freundschaften oft besser integrierbar beziehungsweise tragbarer als in einer Partnerschaft“, sagt Andrea Wieneke. Das läge vermutlich auch daran, dass die Paarbeziehung für viele nach wie vor den höheren Stellenwert hat.

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Dass Freundschaften Vielfalt ins eigene Leben bringen, sehen auch einige der rund 240 Menschen so, die an meiner Umfrage mitgemacht haben. Ich wollte wissen: „Was bedeuten dir Freundschaften?“. Auf die Frage, was sie an Freundschaften ganz besonders schätzen, gaben die Teilnehmenden Antworten wie „Menschen um mich herum zu haben, die anders sind als ich. Anders denken, anderes arbeiten, anders ihr Leben priorisieren.“

„Freundschaft beinhaltet die Freiheit, verschieden zu sein“, schreibt Franziska Schutzbach in ihrem Buch „Revolution der Verbundenheit“. Anders als in Familie oder Partnerschaft müssen wir uns darin nicht anpassen oder gleich ticken. Im Gegenteil: Freundschaften lassen unterschiedliche Sichtweisen und Erfahrungen zu. Sie sind selbst gewählt, ohne Hierarchie – und gerade deswegen so wertvoll für eine offene Gesellschaft.

Die Tipps aus der KR-Community: Feste Freunde-Dates und Gartencenter-Besuche

Wie aber schafft man es konkret, Freundschaften nicht länger als Beiwerk zu behandeln, sondern sie ins Zentrum des eigenen Lebens zu rücken?

Katarinas Antwort auf diese Frage ist: Disziplin. Ihre Treffen mit Olivia plant sie oft Monate im Voraus. Auch die Antworten aus meiner Umfrage zeigen ein klares Muster: Regelmäßigkeit ist entscheidend. Viele reservieren feste Tage für Freundschaften, planen gemeinsame Urlaube oder schaffen Traditionen wie Spieleabende, wie KR-Mitglied Madita vorschlägt. Sie findet allerdings auch: Geteilte Alltagsmomente sind ebenso wichtig, „Spielplatz oder ‚normales‘ Abendessen ohne großen Aufwand“, schreibt sie. Es brauche eine „gute Mischung aus Freundschafts-Dates und gemeinsamem Alltagsrumhängen“, findet auch Karen.

Anna ist Anfang 40, alleinerziehend, Mutter eines 5-jährigen Kindes, und fühlt sich häufig einsam. Sie würde gern mehr Zeit mit ihren Freundinnen verbringen, zum Beispiel regelmäßig mit ihnen und ihren Kindern gemeinsam Abendessen. „Aber das scheitert immer am ‚Wir müssen noch so viel erledigen‘“, schreibt sie. „Eine Freundin, die sich versucht, davon etwas freier zu machen, bekommt ganz starken Gegenwind von ihrer Schwiegermutter und anderen Beteiligten.“

Man muss Freund:innen Wertschätzung zeigen und an der Beziehung arbeiten

Die Freundschaftsberaterin Andrea Wieneke rät, Gespräche zu folgenden Themen zu führen: Was wünsche ich mir von dir? Was macht mir Sorgen? Was schätze ich an dir? „Diese Gespräche müssen Teil des Alltags werden“, sagt sie.

Die Antworten auf diese Frage könnten so banal sein wie: „Ich will endlich mal mit dir in den Urlaub fahren“ bis hin zu: „Ich bin neidisch auf das, was du erreicht hast.“ Wieneke sagt: „Auch schwierige Themen sind eine Chance, keine Gefahr.“

Ein klassischer Konflikt entstehe bei unterschiedlichen Lebensphasen, etwa wenn eine Person Kinder bekommt und die andere Single bleibt. „Das kann schlimme Verlustängste auslösen“, sagt Wieneke. Besonders stark seien solche Konflikte dann, wenn verschiedene Bindungsbedürfnisse aufeinandertreffen – genau wie in Paarbeziehungen.

„Wenn einer ein starkes Bindungsbedürfnis hat, für die andere Autonomie aber besonders wichtig ist, können Konflikte entstehen. Dieser Konflikt zwischen Autonomie und Bindung ist oft sehr ähnlich wie in einer Paarbeziehung. Daher ist es sehr wichtig, offen über die jeweiligen Bedürfnisse ins Gespräch zu gehen, um zu schauen, ob diese Bedürfnisse überhaupt erfüllbar sind.“

Freundschaften sind auch ein politisches und rechtliches Thema

Eine radikalere Idee aus der Umfrage: Haus-WGs, in denen Paare und Freunde zusammenleben. Sara würde das gerne umsetzen. „Ich habe eine großartige Beziehung zu meinem Mann, WEIL ich großartige Freunde habe, die für mich auf gleicher Stufe stehen“, schreibt sie. Sara und ihr Mann haben fünf Kinder. Die klassische Kleinfamilie im Einfamilienhaus kommt für sie nicht in Frage. „Ohne unsere Freunde zu leben, ist nicht vorstellbar für uns“, schreibt sie. Doch alternative Wohnformen scheitern oft an der Finanzierung – staatliche Förderung gibt es nur für traditionelle Familienmodelle.

Ein häufiger Wunsch in meiner Umfrage: weniger Arbeit oder „die 4-Tage-Woche“. Franziska Schutzbach bestätigt in „Die Revolution der Verbundenheit“: Seit den 80er Jahren dominiert die Erwerbsarbeit unser Leben. Wir ziehen häufiger um, pflegen zweckmäßigere Netzwerke statt echter Freundschaften. Und bleiben trotz vieler Kontakte oft einsam.

Und es gibt weitere ökonomische Faktoren, die unsere Freundschaften beeinflussen: Wer arm ist, trifft seine Freund:innen seltener. Das hat das Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) am DIW Berlin 2017 festgestellt.

Außerdem fehlt es an rechtlicher Absicherung: Im Krankenhaus haben Freunde kein Auskunftsrecht, beim Zusammenleben keine finanziellen Schutzrechte wie Eheleute. Welche das sind, habe ich in diesem Artikel zusammengefasst.

Die Ampelregierung hatte vor, eine solche rechtliche Absicherung zu schaffen und Freundschaften damit auch gesellschaftlich stärker anzuerkennen. Die „Verantwortungsgemeinschaft“ sollte Freundschaften und andere nicht-romantische Beziehungen wie WGs oder Geschwister rechtlich und finanziell absichern. Doch die neue Justizministerin Stefanie Hubig (SPD) hat das Projekt gestoppt.

Eine andere Initiative der Ampelregierung führt die aktuelle Regierung aber weiter: die Strategie gegen die Einsamkeit. Darin heißt es: Frauen über 80 sind besonders von Einsamkeit betroffen, weil sie nach dem Tod des Partners allein dastehen. Ein Muster, das sich früh abzeichnet, wie KR-Leserin Anna beobachtet: „Meine Freundinnen haben zwischen Partner, Job und Kindern keine Zeit mehr für Freundschaften. Sie fallen von einer atemlosen Woche in die nächste. Dabei sind Freundschaften oft beständiger als Paarbeziehungen. Verrückt, oder?“


Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Isolde Ruhdorfer, Bildredaktion: Gabriel Schäfer, Audioversion: Christian Melchert

Was wir über Freundschaft neu lernen müssen

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