Nutze diese Share URL, um den Artikel mit Tracking zu teilen
Als Mitglied hast du Zugriff auf diesen Artikel.
Ein Krautreporter-Mitglied schenkt dir diesen Artikel.
ist Krautreporter-Mitglied und schenkt dir diesen Artikel.
Vor einigen Wochen habe ich hier über einen merkwürdigen Effekt geschrieben. Mehrere Studien kamen zum Ergebnis, dass Achtsamkeitskurse negative Effekte auf Jugendliche haben können. Man ging davon aus, dass es die mentale Gesundheit von jungen Menschen verbessert, wenn sie mehr über Achtsamkeit und psychische Krankheiten lernen. Die meisten Workshops und Trainings helfen den Studien zufolge aber kaum oder gar nicht. Viele Schüler:innen hatten danach sogar mehr Sorgen und Probleme als davor. Auch, weil die Trainings zu mehr Fehldiagnosen und falschen Selbstzuschreibungen führen können.
Viele Eltern, Lehrkräfte und Psycholog:innen haben mir anschließend geschrieben. Sie erzählen, wie sie mit diesem Effekt umgehen und stellen ihn auch infrage. Außerdem bin ich über eine weitere Studie gestolpert, die vielleicht eine Lösung parat hat.
Manche Jugendliche fühlen sich angemessen scheiße
Eine Person, die mir geschrieben hat, ist Christine. Sie ist Mutter von vier Kindern, alle im Teenager- oder jungen Erwachsenenalter. Ihr ist wichtig, dass das Leiden von Jugendlichen nicht als übertrieben oder falsch abgetan wird. Sie sagt: „Jugendlichen geht es nicht gut, sie ziehen sich zurück, sind verschlossen, pessimistisch, ängstlich.“
Die Ausmaße seien extrem. In der Klasse ihrer 15-jährigen Tochter seien circa ein Drittel der Schüler:innen in Therapie oder suchen nach einer. Und das sei keine Brennpunktschule, sondern ein gutbürgerliches Gymnasium in bester Lage. „Ich finde den Ansatz schon auch gut, den Jugendlichen zu sagen: dass man sich nicht immer super fühlt, ist normal. Traurigkeit darf sein. Aber die vielen, vielen Jugendlichen, die therapeutische Unterstützung suchen, haben größere Schwierigkeiten, als sich manchmal traurig zu fühlen.“
Und selbst, wenn nicht: Dass es durch Achtsamkeitskurse zu mehr Fehldiagnosen kommen kann, heißt nicht, dass Kinder und Jugendliche nicht mehr ernst genommen werden sollten, wenn sie sich Hilfe suchen. Selbst wenn junge Menschen keine klinische Diagnose bekommen, sondern sich nur mal angemessen scheiße fühlen. Das schreibt mir auch Diplom-Psychologin Sarah. Sie arbeitet seit einiger Zeit in der bayerischen Lehrkräftefortbildung. „Wenn meine Eltern sich gerade scheiden lassen, dann möchte ich das vielleicht nicht mit meinen Eltern oder Geschwistern besprechen, weil die alle unmittelbar davon betroffen sind. Klassenkameraden können das vielleicht verstehen und auffangen – aber auf einem Niveau eines Jugendlichen. Wohin sollen sich die Kinder und Jugendlichen denn wenden?“
Reden ist nicht die Ursache – oder doch?
Sarah sagt auch: Man dürfe nicht suggerieren, das Reden über psychische Erkrankungen sei die Ursache dafür. „Wer sich mit psychischen Erkrankungen auseinandersetzt, der weiß, dass Genetik zum Beispiel eine sehr große Rolle spielt. Natürlich haben auch Umweltfaktoren einen Einfluss, sonst ließe sich der Anstieg der Erkrankungen nicht erklären. Mit zu den häufigen Erklärungsmodellen zählen ungesunde Ernährung, zu wenig Bewegung, zu viel oder die falschen digitale Medien.“ Über Krankheiten reden (allein) löse keine Krankheit aus. Zumindest nicht langfristig.
Gleichzeitig spielt das Reden bei psychischen Krankheiten eine viel größere Rolle als bei allen anderen Krankheiten. Auf seinem Blog erklärt der Verhaltenstherapeut Thorsten Padberg, dass es den sogenannten Looping-Effekt gibt. Der beschreibt, „wie sich psychische Symptome, Begriffe, Deutungsmuster und letztlich auch Diagnosen sozial fortpflanzen.“ Was heißt das?
Psychische Symptome entstehen nicht isoliert, sondern im Austausch mit Sprache, Kultur und Gesellschaft. Wie Menschen ihr seelisches Leiden ausdrücken, hängt davon ab, welche Worte sie dafür kennen.
Der Looping-Effekt (nach dem Sprachphilosoph Ian Hacking) beschreibt dieses Wechselspiel: Begriffe aus Fachsprache und öffentlichem Diskurs prägen, wie Menschen ihr Leiden verstehen und zeigen. Und diese Ausdrucksformen beeinflussen wiederum, wie andere ihr eigenes Erleben wahrnehmen. So entsteht eine Rückkopplungsschleife: Gesellschaftliche Vorstellungen formen Symptome, und Symptome formen gesellschaftliche Vorstellungen.
WAS WIR DIESE WOCHE LESEN, HÖREN UND SEHEN
🎤 Dafür, wie wichtig Nora Imlau für aktuelle Debatten rund um Erziehung und Familie ist, ist sie hier bisher viel zu selten aufgetaucht. Sie ist eine der bekanntesten Vertreter:innen der bindungsorientierten Elternschaft. Und war zu Gast im „Hotel Matze“. Dort erklärt sie in zweieinhalb Stunden (!) unter anderem, was genau mit bindungsorientiert gemeint ist (und was nicht), und wie Eltern dem Perfektionsdruck nicht verfallen.
📙 Die Unabhängige Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat in einer Studie 133 Berichte von Betroffenen ausgewertet, die zwischen 1949 und 2010 sexualisierte Gewalt in der Schule erlebt haben. In vielen dieser Fälle wird deutlich, dass die Schülerinnen und Schüler weder durch Lehrkräfte oder anderes schulisches Personal geschützt wurden.
Gibt es einen Text, eine Doku oder ein Buch, worüber wir unbedingt schreiben sollten? Schreib an tkaa@krautreporter.de!
Ist Reden über das Reden die Lösung?
Durch Julian Schmitz, Professor für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie in Leipzig, bin ich auf eine spannende Studie gestoßen, die versucht, diesen Looping-Effekt von vornherein zu verhindern. Die Wissenschaftler:innen klärten junge Menschen über ADHS auf, was wieder zu falschen ADHS-Selbstzuschreibungen führte. Allerdings: Wenn sie die Teilnehmenden on top noch darüber aufklärten, dass es nach dem Training zu möglichen falschen Selbstzuschreibungen kommen kann und es auch andere Erklärungen für ADHS-Symptome gibt, dann verschwand der negative Effekt.
Die Formel könnte also lauten: Aufklärung über Symptome + Aufklärung über die Aufklärung = Aufklärung, die wirklich hilft.
Dieses Gymnasium macht alles anders | Doku
Wir schreiben hier ja öfter über Schulen, die vieles anders machen. Manchmal will man aber auch sehen, wie es in solchen Schulen aussieht. SWR Aktuell hat das Gymnasium Mainz-Mombach ein Jahr lang begleitet. Im Video auf Youtube sieht man, wie themenorientiertes Lernen funktioniert und wie man Schule organisiert, wenn es keine Klassenräume gibt.
Gibt es ein Konzept, ein Projekt, eine Schule oder eine Person, über das oder über die wir unbedingt schreiben sollten? Erzähl uns davon: tkaa@krautreporter.de!