Drei Protagonisten im Vordergrund, Hintergrund zeigt ein leeres Klassenzimmer

Feliphe Schiarolli/Unsplash

Kinder und Bildung

„Erst nach Jahren habe ich den Mut gefunden, das Abi nachzuholen“

Drei Menschen erzählen, wieso sie die Schule abgebrochen haben. Und warum sie heute wissen, dass es nicht an ihnen lag.

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Bildungsreporterin

Ich wusste immer, die schlechteste Note wird mir gehören

René sitzt auf einem Stuhl und lacht in die Kamera

René, heute 26 Jahre alt, musste nach seinem Schulabbruch lange an sich arbeiten, um wieder an sich glauben zu können. | Foto: privat.

Ich war auf vier verschiedenen Grundschulen. In der vierten Klasse hatte ich gerade so den Schnitt, den man in Bayern fürs Gymnasium brauchte. Meine Grundschullehrerin wollte mir das Gymnasium ausreden. Ich bin trotzdem gegangen und war sehr stolz. Der Stolz blieb aber nicht lange.

Ich hatte immer zwei Fächer, mit denen ich nicht zurechtkam. In der fünften und sechsten Klasse waren es Mathe und Englisch. In der zehnten bin ich wegen Mathe und Chemie durchgefallen. Das ist ein bisschen witzig, weil ich jetzt Naturwissenschaften studiere. Auf Englisch. Aber bis dahin war es ein weiter Weg.

In Kunst und Musik war ich eigentlich ganz gut. Aber in den Fächern, die als wichtig galten, wusste ich immer, dass die schlechteste Note mir gehören würde. Ich fing an, den Glauben an mich zu verlieren. Ich hatte das Gefühl, Leute zu enttäuschen. Als ich elf oder zwölf Jahre alt war, hatten meine Mutter und ich einen großen Streit. Sie meinte, ich würde mich nicht darum scheren, wie es in der Schule lief. An dem Tag, an dem die Zeugnisse ausgeteilt wurden, hat mich eine Englischlehrerin mal aus Mitleid vor der ganzen Klasse umarmt. Das war mir extrem unangenehm. Bei den anderen Lehrern hatte ich das Gefühl, die kriegen nicht mal mit, wie es mir geht.

Wir waren riesige Klassen, da war kein Raum für den Blick auf die Einzelnen. Mir ging es psychisch nicht gut. Ich war anders. Ich war der Öko, weil ich mich vegetarisch ernährt habe. In der zehnten Klasse war klar, dass ich das Gymnasium verlassen muss: Ich hatte die mittlere Reife nicht geschafft.

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Eine Beratungslehrerin hat mit mir gesprochen. Es gab zwei Optionen: Einmal die „besondere Prüfung“ – die heißt wirklich so. Das ist eine Extra-Prüfung, die Leute machen können, um die Mittlere Reife zu bekommen, auch wenn sie eigentlich durchgefallen sind. Oder ich hätte auf eine Fachoberschule wechseln und dort noch zwei oder drei Jahre in die Schule gehen können. Mir war klar: Ich packe es psychisch nicht, weiter in die Schule zu gehen. Deswegen habe ich diese „besondere Prüfung“ am Ende der Zehnten gemacht. Ich habe sie mit 4,0 bestanden, gerade so.

Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich Zukunftsperspektiven habe. Es war mir peinlich, mich mit meinem Zeugnis und der „besonderen Prüfung“ zu bewerben. Das ist ja nichts, was man gerne zeigen will: Hier, das ist mein durchgefallenes Zeugnis und das meine besondere Prüfung. Insgeheim habe ich immer gedacht, die besondere Prüfung ist für besonders blöde Schüler.

Die Schule abzubrechen war trotzdem gut. Ich musste raus aus diesem Schulkontext. Ich habe ein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht, danach wusste ich wieder nicht weiter. Ich habe kurz in einer Bäckerei gearbeitet und dann eine Ausbildung in der Pflege angefangen, die ich aber schnell wieder abgebrochen habe.

Es hat Jahre gedauert, bis ich den Mut gefunden habe, das Abi nachzuholen. Vorher habe ich eine Therapie gemacht und an meinem Selbstbild gearbeitet. Mit 21 Jahren habe ich gedacht: Wenn ich mich hinsetze und lerne, kann ich das schaffen. Ich habe mich für die Erwachsenenschule angemeldet und 15 Punkte in Mathe geschrieben. In Mathe!

Dann war klar: Meine schlechten Leistungen lagen an den Umständen, nicht an mir. Die Hierarchien auf der Erwachsenenschule waren komplett flach. Es bedeutete etwas ganz anderes, dort mal einen Tag zu fehlen. Die Verantwortung lag bei mir. Einen Job oder Kinder zu haben, war unter meinen Mitschülern normal. Es gab viel Verständnis und weniger Druck von den Lehrkräften. Mein Lehrer hat mit mir gesprochen, ob ich nicht Physik in der Oberstufe wählen will. Der Vorschlag war absurd für mich. Gewählt habe ich dann Geografie und Biologie. Manchmal denke ich heute immer noch: Ich bin nicht genug für Naturwissenschaften.

Das liegt an meinen Erfahrungen in meiner Schulzeit. Ich glaube, vielen Kindern und Jugendlichen geht es wie mir: Sie haben das Gefühl, nichts wert zu sein, wenn die Noten schlecht sind. Und dieses System macht unkreativ. Kreativ sein ist ja ein Ausdruck von sich selbst, dafür muss man sich selbst kennen. In der Schule geht es aber viel mehr darum, die Erwartungen von anderen zu erfüllen, statt sich selbst zu verstehen.

Die Abifeier letztes Jahr im Juli war emotional für mich. Da war ich 25. Das hat etwas in mir geheilt. Mein 15-jähriges Ich wäre stolz gewesen.


Es ist geradezu erschütternd, wie schnell so eine schulische Karriere zu Ende sein kann

Claudia mit Sonnenbrille am grinsen

Claudia ist 63 Jahre alt. Die Erfahrungen ihrer Schulzeit haben sie geprägt, erst mit dem Tod ihrer Mutter konnte sie damit Frieden schließen. | Foto: privat

Bei mir ist der Schulabbruch schon etwas länger her. Genauer gesagt 48 Jahre.

Meine Eltern haben entschieden, mich aus dem Haus zu geben, als ich 15 war. Sie sind nicht mit mir zurechtgekommen. Ich war da gerade in der neunten Klasse eines Gymnasiums in Nordhessen. Ich komme aus einem super bürgerlichen und durchschnittlichen Haushalt. Meinem Vater gehörte ein kleines Unternehmen, meine Mutter hat Teilzeit gearbeitet. Ich habe eine vier Jahre jüngere Schwester. Wenn es damals den Hashtag schon gegeben hätte, hätte meine Mutter sich wahrscheinlich mit „Regretting Motherhood“ identifiziert. Ich wurde erst ins Internat und dann ins Heim gegeben. Das Heim war in Frankfurt, also bin ich auf ein Gymnasium in einem gut betuchten Frankfurter Stadtteil gewechselt.

Dass ich an dem Ort, an dem ich aufgewachsen war, nicht mehr sein durfte, hat mehr nachgewirkt, als ich mir hätte vorstellen können. Das Haus meiner Eltern war trotz aller Schrecklichkeit mein Zuhause gewesen. Auf dem Gymnasium war ich „die aus dem Heim“. Meine Haare habe ich mir immer gefärbt, erst hennarot, später blau. Ich war nicht so brav gekleidet wie die anderen, trug weite Pumphosen, wie es Ende der Siebzigerjahre angesagt war. Aber nicht in Frankfurt-Sachsenhausen. Ich hatte überhaupt keine Chance, dort anzukommen. Meine Mitschüler fand ich alle doof und schnöselig. Am Ende der neunten Klasse habe ich das erste Mal die Schule abgebrochen.

Rückblickend finde ich es erschütternd, wie schnell so eine schulische Karriere zu Ende gehen kann. Ich habe viele Jahre gebraucht, um aus diesem schulischen Absturz wieder rauszukommen. Damals habe ich mich schuldig gefühlt. Der Abbruch hat zu dem Bild gepasst, das ich von mir hatte: Wenn meine Eltern mich aus dem Haus geben, muss mit mir ja irgendwas nicht stimmen.

Mit 17 habe ich den Hauptschulabschluss an der Volkshochschule nachgeholt. Sozialpädagogische Fachkräfte aus dem Heim hatten das für mich organisiert. Ich wurde eng begleitet. Die Sozialarbeiter:innen haben gefragt, was ich brauche und mir bei den Hausaufgaben geholfen. Manchmal haben sie mich sogar zur Volkshochschule gefahren. Sie behandelten mich nicht von oben herab, nicht wie in der Schule. Nach dem Abschluss hatte ich Blut geleckt und direkt die mittlere Reife gemacht. Da war ich 19. Ich habe gemerkt, dass mir das Lernen eigentlich liegt.

Nach der mittleren Reife habe ich es noch einmal mit dem Gymnasium versucht. Ich wohnte zu der Zeit in einer Wohngemeinschaft. Alle meine Mitbewohner waren zehn Jahre älter, hatten eine Berufsausbildung und sind arbeiten gegangen. Mir fehlte eine Perspektive. Ich habe es auf dem Gymnasium nicht mal bis zur zwölften Klasse geschafft. Ich habe wieder die Schule abgebrochen.

Mit 21 habe ich eine Ausbildung zur Maschinenschlosserin bei der Deutschen Bahn angefangen. Bei der Abschlussprüfung war ich schon schwanger. Als mein Sohn auf der Welt war, habe ich mir gesagt: Ich mache jetzt noch einen letzten Anlauf. Ich wollte mir zeigen, dass ich meine Schulkarriere zu einem erfolgreichen Ende bringen kann. Mit der mittleren Reife und der Berufsausbildung konnte ich das Fachabitur in einem Jahr machen.

Das habe ich geschafft! Da war ich 30 und mein Sohn fünf. Damit war ich die Erste in meiner Familie mit Abitur. Anschließend habe ich studiert, erst Diplomsozialarbeit und dann einen berufsbegleitenden Master im Gesundheitswesen. Damit war ich auch die Erste mit akademischen Titeln in meiner Familie. Als ich meinen Master abschloss, war ich 44.

Hauptschulabschluss, mittlere Reife und das Abitur. Eigentlich wollte ich nur, dass mir jemand sagt, dass ich das gut gemacht habe. Oder um mir selbst zu beweisen: Ich kann das, ich bin kein Loser. Ich hatte lange das Gefühl, dass ich selbst schuld bin, wenn ich versage. Erst seit ein paar Jahren fühle ich das nicht mehr. Dafür habe ich einige Therapien gebraucht und einen Mann, der uneingeschränkt an mich glaubt.

Es braucht Menschen, die sich für einen interessieren, damit man sich für sich selbst interessiert. Ich hatte beides lange nicht. Ich habe über zehn Jahre in der Jugendhilfe gearbeitet, mit Gangstern, Kleinkriminellen, Drogendealern. Wenn denen etwas gelungen ist, von dem sie nicht dachten, dass sie es schaffen würden, war es so toll zu beobachten, wie sich aus der kleinen verkrumpelten Persönlichkeit eine Ecke herausfaltete. Noch Wochen nach so einem Erlebnis haben sie darüber gesprochen.


Ich glaube nicht, dass das Schulsystem für Menschen gemacht ist

Sara am Lächeln im Auto

Sara Bittner ist 20 Jahre alt und hat keinen Abschluss, aber träumt davon, mal ein Café zu eröffnen. | Foto: privat.

Nach der vierten Klasse kam ich aufs Gymnasium. Dort habe ich sofort einen krassen Druck verspürt. Mit dem Notensystem kam ich nicht klar. Es hat für mich keinen Sinn ergeben, dass man in Fächern wie Kunst oder Musik mit Noten bewertet wird. Zu häufig haben Lehrer einfach auch danach bewertet, ob sie Schüler mochten oder nicht. Mir kamen die Lehrer vor wie Könige und wir wie die Untergebenen. Das Motto war: Du machst, was ich sage. Über Haupt- und Oberschulabschlüsse wurde immer schlecht geredet. Die Lehrer am Gymnasium trichterten uns ein, an Haupt- oder Oberschulen seien nur Dumme und Asoziale.

Ich war nie schlecht in der Schule, ich bekam immer recht gute oder solide Noten, viele Zweien und Dreien. Ich war auch nicht unbeliebt. Aber ich bin mit dem System nicht klargekommen. Wie Schüler ausgegrenzt wurden, die nicht den Normen entsprochen haben, hat mich gestört. Dass es den Lehrern gefühlt egal war, wie es uns ging. Alles ist nur für einen Lerntyp gemacht: hören, aufschreiben, auswendig lernen. Die Priorität lag auf den perfekten Noten und dem perfekten Abschluss. Wenn alle schlecht abgeschnitten hatten, war es immer die Schuld von den Schülern. Wie nach dem Motto: Mach dich kaputt für deinen Abschluss.

In der siebten und achten Klasse ging es mir gar nicht gut. Rückblickend würde ich sagen: Ich hatte einen Burnout. Meine Noten waren immer noch nicht schlecht. Aber ich kam mit den tausend Tests, Vorträgen und Hausaufgaben nicht klar. Also beschloss ich, an eine Oberschule zu wechseln. Dort wurden meine Noten besser. Ich geriet aber in einen Freundeskreis, in dem viel Alkohol und andere Drogen konsumiert wurden. Meine Depressionen wurden intensiver und die Schule war mir egal. Ich ging für eine Zeit in eine psychiatrische Klinik. Dort habe ich das erste Mal das Wort „Schultrauma“ gehört.

Wenn ich über Schule redete oder an einer vorbeigelaufen bin – es musste noch nicht mal meine eigene sein –, ging es mir nicht gut. In solchen Situationen habe ich Bauchschmerzen bekommen. Nach dem Klinikaufenthalt sind meine Eltern mit mir nach Bayern gezogen. Für einen Neustart kurz vor meinem 16. Geburtstag.

Während Corona ging es mir tatsächlich besser. Online lernen war für mich kein Problem. Ich mag lernen und wissen, aber zur Schule gehen nicht. Irgendwann musste ich wieder hin. In der Schule in Bayern gab es einen Religionslehrer, der immer wieder Witze über Psychiatrie und Suizid gemacht hat. Die meisten Erinnerungen an ihn habe ich verdrängt, aber ich weiß auch noch, dass er es gut fand, wenn wir 16-Jährigen uns am Wochenende abgeschossen haben.

Eine Ärztin befreite mich vom Religionsunterricht. Aber das hat nicht gereicht: Sobald ich in der Schule war, kamen mir starke Suizidgedanken, auch das Bedürfnis, mir weh zu tun oder zu trinken, zu konsumieren, zu rauchen. Die Ärztin schrieb mir eine Befreiung für ein Jahr. Das war nach der neunten Klasse. Seitdem war ich nicht mehr in der Schule.

Ich bin jetzt 20 Jahre alt, habe nie eine Prüfung gemacht und weiß nicht, ob ich einen Abschluss habe. Ich bin recht schnell arbeiten gegangen, dabei ging es mir gut. Eigentlich wollte ich bei der Drogeriemarktkette DM im kommenden Jahr eine Ausbildung anfangen. Bei dem vorbereitenden Gespräch für die Ausbildung musste ich aber sehr viel weinen: Ich habe gemerkt, dass auch die Vorstellung, in die Berufsschule zu gehen, mir zu viel Angst macht. So habe ich erstmal einfach weiter bei DM gearbeitet.

Mit 18 Jahren hatte ich meinen Mann kennengelernt und war recht schnell schwanger geworden. Er ist US-Amerikaner und wir leben jetzt gerade in Texas in den USA. Mein Kind ist fast ein Jahr alt, ich bin zuhause und kümmere mich darum. Wir wollen aber bald wieder nach Deutschland ziehen. Dann werde ich auch wieder anfangen zu arbeiten. Ich habe den Traum, ein eigenes Café zu eröffnen. Falls nötig, kann ich mir vorstellen, dafür eine Online-Schule zu besuchen. Aber in ein Schulgebäude will ich nicht mehr gehen.


Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Gabriel Schäfer; Audioversion: Iris Hochberger

„Erst nach Jahren habe ich den Mut gefunden, das Abi nachzuholen“

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