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Mein Name ist Felix und ich bin 19 Jahre alt. Als frisch gebackener Abiturient habe ich gerade dreizehn Jahre Schule hinter mir. Einige Tücken, Lücken und vielleicht sogar Wunden unseres Schulsystems sind daher noch allgegenwärtig für mich.
Als ich im Internet nach Zukunftsvisionen für unser Schulsystem gesucht habe, wurde ich immer wieder mit drei Stichworten konfrontiert: Individualisierung, Innovation und vor allem Digitalisierung. Letzteres ist an meiner Schule in den letzten Jahren nicht so wirklich gelungen, um nicht zu sagen regelrecht gescheitert.
Den Browser auf dem Smartboard zu öffnen, war für viele schon Herausforderung genug
Vor drei Jahren begann die Digitalisierung an meiner ehemaligen Schule. Die Klassenräume wurden mit Smartboards ausgestattet und den Schüler:innen zunächst erlaubt, ihre eigenen digitalen Geräte mitzunehmen - Chaos war also vorprogrammiert. In der Realität sah das so aus: Während meine Lehrer:innen damit beschäftigt waren, herauszufinden, wie man das Smartboard einschaltet, haben sich meine Mitschüler:innen und ich die Zeit am iPad vertrieben. Mein Geschichtslehrer hat es erst gar nicht versucht und zu Beginn jeder Stunde zuallererst das Smartboard abgestöpselt. Dass ein Großteil des Kurses ChatGPT nutzte und sich die Zeit auf Tiktok oder HayDay totgeschlagen hat, war für mich völlig normal. Für alle, die es nicht wissen: HayDay ist ein Handy-Spiel, bei dem man seinen eigenen Bauernhof betreibt. Die Lehrer:innen schienen wie immer nichts mitzubekommen oder schlicht ohnmächtig zu sein. Den Browser auf dem Smartboard zu öffnen und uns ein kurzes Lernvideo zu zeigen, war für viele schon Herausforderung genug.
Strengere Lehrer:innen haben ab und zu versucht, durch die Reihen Kontrolle zu laufen - erfolglos: War die Lehrkraft im Anmarsch, haben meine Kurskolleg:innen und ich einfach die Apps geschlossen oder schnell das iPad ausgemacht. Konnte dann mal der Unterricht beginnen, zeigte mein Politiklehrer uns immer mal wieder ein Video von MrWissen2go, um wirklich alle in möglichst kurzer Zeit abzuholen. MrWissen2go erklärt Geschichte, Politik und Aktuelles in wenigen Minuten in Videoformaten. Zusammenfassend kann man sagen: Meine Lehrer:innen haben versucht, auf digitale Formate zu setzen, aber die Kompetenz hat gefehlt. Ein Youtube-Video anzumachen hat auch mal 20 Minuten gebraucht (nicht übertrieben).
Mit Tiktok wird … gelernt?!
Kurzvideos werden natürlich nicht nur im Unterricht geschaut. Auch zu Hause nutzen ich und eigentlich fast alle meiner ehemaligen Mitschüler:innen Tiktok und Co. Schaue ich mal auf Instagram vorbei, stoße ich öfter auf kurze Lernvideos - manchmal bewusst, manchmal versehentlich beim Durchswipen. Mitschüler:innen erzählten mir vor Klausuren häufig, dass sie mit Tiktok gelernt hätten. Wenig verwunderlich, werden wir doch heute auf sämtlichen Social-Media-Plattformen mit Inhalten von Institutionen, Bildungseinrichtungen und sogar mit Olaf Scholz Aktentasche konfrontiert. Selbst der bei mir und unter Schüler:innen generell beliebte Mathe-Nachhilfelehrer Daniel Jung veröffentlicht seine Lerninhalte inzwischen nicht nur auf Youtube, sondern auch auf Tiktok. Mein Ziel war dabei immer klar: Ich wollte möglichst viel in kurzer Zeit lernen. Mal eben die Versäumnisse der letzten Jahre Matheunterricht in ein paar Minuten nachholen.
Das macht Tiktok mit uns
Ich selbst verbringe knapp zwei Stunden täglich auf Social-Media, darunter ein Großteil auf Tiktok und Instagram. Meine Bildschirmzeit passt in den Durchschnitt: 2 Stunden und 21 Minuten verbringen User:innen im Durchschnitt täglich weltweit auf Social-Media. In Deutschland ist Tiktok die klare Nummer eins unter jungen Menschen mit knapp 35 Stunden Nutzungszeit pro Monat.
Habe ich mal Langeweile oder versuche, den Kopf freizukriegen, schaue ich einfach ein paar kurze Katzenvideos (ja, ich mag Katzen), um mein Gehirn kurzfristig mit dem Glückshormon Dopamin zu versorgen. Dabei ist gerade dieses Belohnungssystem so gefährlich. Wenn wir immer weiter swipen, nur um exakt das Video sehen zu können, das wir wirklich spannend oder lustig finden, verschlechtert sich unsere Aufmerksamkeitsfähigkeit. Kurzvideos sind nur kurzzeitig aufmerksamkeitsbindend. Manche Expert:innen warnen sogar vor Suchtgefahren, Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen, die durch den übermäßigen Konsum von Kurzvideos entstehen können.
Wie passen also der Wunsch nach schneller Bildung und die von Expert:innen aufgezeigte Realität zusammen? Sind Kurzvideos geeignet, um nachhaltig zu lernen? Mit dieser Frage hat sich vor kurzem das Institut für Pädagogische Psychologie der Technischen Universität Braunschweig beschäftigt.
Wer mit Kurzvideos lernt, lernt eher oberflächlicher
Fernab der möglichen psychischen Probleme, die Tiktok und Co. mitverantworten können, kommt die Technische Universität Braunschweig zu folgendem Ergebnis: Kurze Erklärvideos sind nicht leistungssteigernd, sondern können diese im Vergleich zu textbasiertem Lernmaterial sogar reduzieren.
Ein Test zeigt, dass Teilnehmer:innen in einem Quiz für rationales Denken deutlich schlechter abschneiden, wenn sie die exakt selben Informationen mit Kurzvideos statt in Textform aufnehmen. Der Psychologe und Autor der Studie Thorsten Otto argumentiert, dass Kurzvideos aufgrund ihrer Länge und Gestaltung eher einen oberflächlichen, statt tiefgreifenden Lernprozess fördern. So würden Inhalte auswendig gelernt und nicht wirklich verstanden oder durchdrungen. Setze man als Lehrkraft auf ruhige und kognitiv weniger überfordernde Kurzvideos, könne man diese durchaus in den Lernprozess einbinden. Inwieweit die kurzzeitige Aufmerksamkeitsbindung von Tiktoks gewinnbringend sein kann, müsse jedoch noch erforscht werden.
So habe ich in der Schule am besten gelernt
Meine übliche Lernmethode besteht darin, Inhalte stichpunktartig aufzuschreiben, zu verstehen und anschließend auswendig zu lernen. Und ja, für den Inhalt arbeite ich auch oft mit ChatGPT oder Lernvideos. Warum denn auch nicht, wenn’s für mich funktioniert? Freund:innen von mir lernten häufig mit Apps oder eben auch mit Tiktok und waren trotzdem erfolgreich. Genau das ist der Punkt: Meine persönliche Erfahrung hat mir gezeigt, dass Lernmethoden unglaublich individuell sind. Gerade da bietet die digitale Welt eine Vielfalt an neuen Lernmöglichkeiten. Digitalisierung und Individualisierung können Hand in Hand gehen und so gleich zwei der anfangs genannten Zukunftsvisionen erfüllen.
An meiner ehemaligen Schule klappt das bisher leider nicht. Obwohl mittlerweile verpflichtend iPads genutzt werden, fühlt sich das nach wie vor wenig digitalisiert an. Das hatte und hat - so hart das klingt - einen einfachen Grund: Den meisten meiner Lehrer:innen fehlte schlichtweg die Kompetenz, um digitale Medien gewinnbringend in den Unterricht einzubauen, oder überhaupt erst zu wissen, wie man sie nutzt. Zumindest vielen meiner alten Lehrkräfte hätte Nachhilfe in Sachen Digitalisierung definitiv nicht geschadet.
Wie könnte die Zukunft des Lernens aussehen?
Um mich und meine Generation abzuholen und gleichzeitig effektiv zu lernen, braucht es neue, kreative und bunte Lernmethoden, die über 136 Seiten Goethes Faust in schwarz-weißer Schrift hinausgehen. Sinnvolle Lernvideos, künstliche Intelligenz oder andere Apps sollten in den Unterricht eingebaut werden - denn so lerne ich auch privat. Gleichzeitig muss der richtige Umgang mit Social-Media gelernt werden. Ich persönlich wäre dankbar gewesen, hätten mir meine Lehrer:innen Gefahren und Möglichkeiten der digitalen Welt vorher aufgezeigt, statt dass ich selbst unvorbereitet damit konfrontiert werde. Dass Tiktok & Co. voll von Fake News sind, mich süchtig machen und meine Aufmerksamkeit verschlechtern, hätte ich gerne schon mit 14 gewusst. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass der Unterricht näher an der Lebensrealität junger Menschen wie mir ist – nur so kann uns Schule wirklich aufs Leben vorbereiten.
Redaktion: Lea Schönborn