Wer auf der Suche nach Buchempfehlungen ist, landet schnell bei Bestsellerlisten. Vermutlich beim Spiegel oder auf Book-Tok, also Videos auf Tiktok, in denen Menschen manchmal auch nur mit leicht angehobenen Mundwinkeln oder einem Lachen, das sich über das ganze Gesicht zieht, zeigen, ob sie das Buch mögen. Und so unterschiedlich die Videos sind, so oft werden die gleichen Bücher und Autor:innen empfohlen. Darum haben wir in der Redaktion Bücher gesammelt, die du vielleicht noch nicht kennst.
Dieses Mal empfehlen wir dir Romane, nächstes Mal folgen unsere Empfehlungen für Sachbücher und Klassiker, und wir sagen dir, warum du diese Bücher wirklich lesen solltest.
Happiness Falls von Angie Kim
Isolde Ruhdorfer

Happiness Falls von Angie Kim, 2023, Faber & Faber
Als der 14-jährige Eugene und sein Vater einen Ausflug in den Park machen, passiert etwas. Zurück kommt nur Eugene, verstört und geschockt. Seine beiden älteren Geschwister und seine Mutter versuchen herauszufinden, was vorgefallen ist. Eugene kann es ihnen nicht erzählen: Er hat Autismus und das Angelman-Syndrom, eine Entwicklungsstörung, und kann nicht sprechen. Er kann auch nicht auf Buchstaben oder Bilder deuten, nicken oder den Kopf schütteln. Seine Familie geht davon aus, dass er meistens nicht versteht, was um ihn herum passiert.
Die Geschichte wird erzählt aus der Perspektive der 20-jährigen Mia, der großen Schwester von Eugene. Nach und nach finden sie und ihre Familie heraus, dass ihr Vater eine Menge Geheimnisse hatte – und dass Eugene zu viel mehr fähig ist, als sie bisher dachten.
In „Happiness Falls“ geht es um Glück, Familien und Kinder mit Behinderungen. Das Besondere an diesem Buch ist, dass man jeder Seite anmerkt, wie intensiv die Autorin Angie Kim recherchiert hat. Sie hat Familien besucht, deren Kinder Autismus und das Angelman-Syndrom haben und war bei Lerngruppen, in denen verschiedene Sprachtherapien zum Einsatz kamen. Dieses Buch hat mir eine Welt gezeigt, über die ich vorher nichts wusste. Gleichzeitig gibt es ständig Cliffhanger, die einen dazu zwingen, immer und immer weiter zu lesen. Es gibt Schock-Momente und Aha-Erlebnisse. Es sind knapp 500 Seiten, von denen es jede einzelne wert ist, gelesen zu werden.
Stone Butch Blues und Drag King Dreams von Leslie Feinberg
Lea Schönborn

Drag King Dreams von Leslie Feinberg, 2006, Basic Books
Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal Bücher gelesen habe, die mich so sehr bewegt haben. Bücher lese ich normalerweise einfach so weg, ich weine oder lache selten dabei. Aber bei diesen beiden Büchern war es anders. Nach dem Lesen mancher Sätze habe ich kurz innegehalten, einmal tief ein- und ausgeatmet, mich vorbereitet auf das, was jetzt passieren würde und erst dann weitergelesen.
„Stone Butch Blues“ und „Drag King Dreams“ sind hart, weil sie autofiktional sind. Geschrieben hat sie Leslie Feinberg und sie verarbeitet in ihnen ihre eigenen Erfahrungen als lesbische und trans Person seit den 1970er Jahren in den USA. Sie schreibt darüber, wie gefährlich es war, zu der Zeit queer zu sein. Erst mit dem Lesen der beiden Bücher habe ich die Ausmaße der Gewalt und die Folgen dieser wirklich begriffen. Die letzten beiden Sätze der Danksagung sind: „Ich habe überlebt. Und nicht nur ich allein.“ Das Buch ist Beweis dafür. Es geht um Einsamkeit, um Freund:innenschaften, um sexuelle Identität, darum, wie man die Welt verändert und was passiert, wenn man aufgibt, es zu versuchen.
„Stone Butch Blues“ wurde 1993 veröffentlicht und „Drag King Dreams“ erst 2006. Das erste Buch ist aus der Perspektive einer aufwachsenden queeren Person geschrieben und kommt etwas grober und weniger fein geschliffen daher. Das zweite ist ausgeruhter, etwas versöhnlicher, und im Mittelpunkt steht eine ältere Person, deren Veränderungswillen mühsam wieder wachgerüttelt werden muss. Also am besten einfach beide lesen.
Sphinx von Anne Garréta
Astrid Probst

Sphinx von Anne Garréta, 2016, Edition fünf
Von Anfang an gilt: Achtung, Achtung Hobbykommissar und Hobbykommissarin. Im Buch wohnt das Quiz und gar Mission.
Halt, ruft Autorin und mahnt zur Umsicht. Nicht zu rasch und prompt soll man sich mit Ahnung abtun.
Das Buchpublikum wird hitzig und ruft: Na und? Wir sind schlau!
Doch Autorin warnt nochmal. Und fragt: Was habt ihr davon? Ob Frau, ob Mann, ob nix davon? Was wisst ihr dann?
Wem aufgefallen ist, das in dem oberen Absatz kein einziges „e“ steckt, der kennt vielleicht die Oulipo-Gruppe und George Perecs Roman „Anton Voyls Fortgang“, der ganz ohne „e“ auskommt. Ein witziges Experiment auf 300 Seiten. Perec schrieb seinen Roman 1969 und begründete damals den französischen Autorenkreis die Oulipo-Gruppe. Oulipo steht für L‘Ouvroir de Littérature Potentielle und wird mit „Werkstatt für Potentielle Literatur“ übersetzt. Durch selbstauferlegte Sprachregeln wollten sie sich von alten Schreibmustern lösen.
Mit ihrem Werk „Sphinx“ gelang es Anne Garréta im Jahr 2000, in diesen berüchtigten Autor:innenkreis aufgenommen zu werden. Worauf sie verzichtet: Geschlecht. Dabei erzählt sie eine Liebesgeschichte zwischen Ich und A*. Beschreibt, wie sich die beiden verlieben und durch das Pariser Nachtleben wirbeln. Und während sie auf der einen Seite A* als Schwarze Person über schlechtes Make-up philosophieren lässt und ich mir sicher bin, hier eine Liebesgeschichte über einen Mann und eine Frau zu lesen, denke ich zehn Seiten weiter, dass sich zwei Frauen lieben. Ich bin reingefallen auf die Stereotype, die Garréta auslegt wie Mausefallen. Um Menschen zu erwischen, wie sie in Schubladen denken, und als ich allmählich begriffen habe, was Garréta da mit mir als Leserin macht, komme ich am Ende endlich zur Erkenntnis: Warum ist das so wichtig? Ob Frau, ob Mann, ob divers?
Glück von Jackie Thomae
Nina Roßmann

Glück von Jackie Thomae, 2024, Claassen Verlag
Die beiden Hauptpersonen in Jackie Thomaes „Glück“ sind die Lokalpolitikerin Anahita und die Radiomoderatorin Marie-Claire. Sie leben in einer Großstadt (ich habe mir beim Lesen Berlin vorgestellt, bin mir aber gar nicht mehr sicher, ob das auch genannt wird), sind knapp 40 Jahre alt und erfolgreich in ihrem Beruf.
Was würdest du, liebe:r Leser:in, noch gerne über die beiden wissen? Vielleicht Folgendes: Die beiden haben keine Kinder. Und genau das ist der Konflikt: ihr persönlicher und der gesellschaftliche.
Denn vielleicht ging es dir gerade wie mir: Wenn ich „zwei erfolgreiche Frauen um die 40“ lese, frage ich mich relativ bald: Haben die Kinder?
Vielleicht hat dich auch noch interessiert: Sind sie attraktiv? Attraktivität und Mutterschaft, sind leider nach wie vor Maßstäbe, an denen Frauen gemessen werden. Da ist es schwer, überhaupt zu wissen: Will ich wirklich Kinder oder hänge ich nur so sehr an dem Bild fest, dass ich als Frau welche haben sollte?
Anahita und Marie-Claire bleibt nicht mehr viel Zeit, um die Entscheidung zu treffen. Doch dann wird eine Pille erfunden, mit der sich die Fruchtbarkeit verlängern lässt …
Falls du wie ich eigentlich nicht auf Fantasy stehst: Lass dich von diesem kleinen Sci-Fi-Dreh nicht stören, er fügt sich perfekt in das sehr lesenswerte, sehr gegenwärtige Buch ein. Mit Humor und in schönen Bildern erzählt Jackie Thomae einen Konflikt, der viele beschäftigt und der doch bisher (von Sheila Hetis „Mutterschaft“ einmal abgesehen) in der Literatur noch wenig ausgeleuchtet wurde.
In ihrem Haus von Yael van der Wouden
Finn Gessert

In ihrem Haus von Yael van der Wouden, 2025, Gutkind Verlag
Der Zweite Weltkrieg liegt 15 Jahre zurück, in der niederländischen Provinz Overijssel ist Ruhe eingekehrt. Isabel führt ein zurückgezogenes Leben in geregelten Bahnen. Sie lebt allein in einem Haus, das sie von ihren verstorbenen Eltern übernommen hat. Doch dann quartiert ihr Bruder seine Freundin Eva bei ihr ein, ausgerechnet im ehemaligen Zimmer ihrer Mutter. Zunächst hat Isabel nur Geringschätzung für diese unverhoffte Mitbewohnerin übrig, die ihre wohlgeordnete Welt mit ihrer geselligen und selbstbewussten Art ins Wanken bringt. Aber allmählich verwandelt sich die gegenseitige Abneigung zwischen den beiden Frauen in Anziehung.
In ihrem Roman-Debüt erzählt Yael van der Wouden eine queere Liebesgeschichte, in der sich Liebe, Erotik, Schuld und Unbehagen fortlaufend überlagern. Und die Geschichte eines Hauses, auf dem das Gewicht eines unschönen, kaum bekannten Kapitels der niederländischen Vergangenheit lastet.
Es sind die glaubwürdigen und verletzlichen Charaktere, die diese Erzählung hervorstechen lassen. Einen Thriller darf man nicht erwarten, obwohl manche Rezensionen von einem solchen sprechen. Die Spannungen in diesem Haus sind von stiller, innerer Natur. Wer „Call me by your name“ gut fand, wird auch hier auf seine Kosten kommen.
Nicht wie ihr von Tonio Schachinger
Lea Schönborn

Nicht wie ihr von Tonio Schachinger, 2020, Rowohlt Taschenbuch.
Ich bin kürzlich im Buchladen mit meinem Blick an einem Buch hängen geblieben, weil ein Fußball darauf abgebildet war. Habe dann gesehen, dass es von Tonio Schachinger ist, einem österreichischen Autor. Von ihm habe ich bereits „Echtzeitalter“ gelesen, ein sehr gutes Buch über einen Jugendlichen, der einer der besten Spieler weltweit in dem Computerspiel „Age of Empires“ ist. Dafür hat Schachinger den Deutschen Buchpreis 2023 gewonnen. Ich habe den Fußballroman gekauft, weil ich dachte: „Fußball geil“ und weil ich noch nie einen Roman gelesen habe, in dem ein Fußballprofi der Hauptprotagonist ist.
Ich fand es noch besser als „Echtzeitalter“, weil es um Fußball statt um Zocken geht und weil ich mich nicht erinnern kann, wann ich das letzte Mal einen Protagonisten so gut kannte. Durch Schachingers Beschreibungen steckt man so tief im Kopf von Ivo, dass man anfängt, sich zu fragen, was Ivo jetzt wohl denken oder sagen würde (mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit würde er jemanden als Hurensohn bezeichnen). Ich kenne Leute, die mögen Fußball nicht, aber das Buch feiern sie trotzdem. Es ist auf eine irritierende Art gleichzeitig extrem deep und extrem stumpf (wie Fußball eben).
Redaktion: Astrid Probst, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Gabriel Schäfer, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger