Manchmal braucht es den Blick von oben, um die Dimension der Dinge zu begreifen. Südlich von Dingolfing erhebt sich eine Anhöhe; blickt man von dort auf die niederbayerische Kreisstadt, liegt sie vor einem wie eine Landkarte: vorn die Kirchtürme und Einfamilienhäuser, dahinter die massiven, silbergrauen Quader des BMW-Werks. In einem davon sitzt die Chefetage, im Volksmund auch bekannt als „Krawattenbunker“.
Im größten europäischen Fahrzeugwerk von BMW rollen Jahr für Jahr fast 300.000 Autos vom Band. Knapp 20.000 Menschen arbeiten hier: Lackierer, Schlosser, Karosseriebauerinnen, Elektroniker. Rund 85 Prozent von ihnen sind Männer.

Nadja Bauer-Beutlhauser erklärt, wie es zu dem Gehaltsunterschied kommt. | David Wünschel
Dementsprechend asymmetrisch ist das regionale Gehaltsgefüge. Vor einigen Monaten veröffentlichte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) eine Analyse zur unbereinigten Lohnlücke zwischen Männern und Frauen in den 400 deutschen Kreisen. Bundesweit beträgt der Gender Pay Gap bei sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten demnach 18 Prozent, in Dingolfing-Landau sind es 40 Prozent. Männer, die im Landkreis beschäftigt sind, verdienen bei gleicher Arbeitszeit im Schnitt 21.800 Euro brutto pro Jahr mehr als Frauen. Nirgendwo in Deutschland ist der Abstand größer.
Nadja Bauer-Beutlhauser blickt von der Anhöhe auf das Werk und sagt: „Soll man wirklich traurig darüber sein, dass es hier so viele gut bezahlte Jobs gibt?“
Bevor BMW kam, war die Region ein landwirtschaftliches Nest
Bauer-Beutlhauser, 45 Jahre alt, arbeitet im Sachgebiet Kreisentwicklung des Landratsamts. Sie ist dafür zuständig, die wirtschaftlichen Strukturen im Landkreis zu stärken, damit Arbeitgeber und Fachkräfte sich wohlfühlen. Sie habe viel darüber nachgedacht, warum der Landkreis bei der Studie so schlecht abschneidet. Mütter würden hier weder schief angeschaut, wenn sie bei den Kindern blieben, noch wenn sie Vollzeit arbeiteten, sagt Bauer-Beutlhauser. Aber in der Region gebe es wenige Möglichkeiten für hochqualifizierte Frauen. Die wichtigsten Wirtschaftszweige und viele Betriebe, darunter Automobilzulieferer, Landmaschinen- und Werkzeughersteller, seien von Männern dominiert.
Bauer-Beutlhauser ist in Dingolfing aufgewachsen; während einer Fahrt in ihrem weißen E-Auto will sie zeigen, was den Landkreis und seine 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner ausmacht.
Dingolfing-Landau liegt rund eine Fahrstunde nordöstlich von München, mitten im fruchtbaren niederbayerischen Flachland. In den Kleinstädten sitzen die Zentralen von mittelständischen BMW-Zulieferern und Werkzeugherstellern; auf den umliegenden Feldern wachsen Kohl, Mais und Gurken. Im Sommer tuckern sogenannte Gurkenflieger über die Äcker, das sind Erntemaschinen mit Tragflächen, auf denen Arbeiter bäuchlings liegen und das Gemüse vom Boden pflücken.

Der Gurkenflieger fährt über ein Feld. | David Wünschel
Die Menschen in Niederbayern seien es gewohnt, hart zu arbeiten, sagt Bauer-Beutlhauser. „Man muss verstehen, wo unsere Wurzeln liegen.“ Bevor BMW sich vor einigen Jahrzehnten ansiedelte, war die Region ein landwirtschaftliches Nest. Ihr 92-jähriger Schwiegervater lebe noch immer in einem Haus mit Holzofen und ohne Warmwasser.
Dass Männer in Dingolfing-Landau finanziell so viel besser abschneiden als Frauen, liegt auch daran, dass das Gehaltsgefüge des Münchner Konzerns bis in die Peripherie ausstrahlt. Wer nach einer zweijährigen Ausbildung im BMW-Werk am Band steht, verdient inklusive Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Schichtzulagen und Prämien nach Angaben der IG Metall fast 60.000 Euro brutto im Jahr – unabhängig vom Geschlecht. Die Gehälter sind tariflich gebunden. Aber rund fünf von sechs Stellen sind von Männern besetzt, im „Krawattenbunker“ ebenso wie im Rest vom Werk.
In der Arbeitswelt sind Frauen strukturell benachteiligt – in Dingolfing-Landau besonders
Bei BMW beginnt die Frühschicht um 5 Uhr, die Spätschicht endet um 22 Uhr; jeden Werktag um halb zwei strömen Tausende Arbeiter in die Hallen, um ihre Kolleginnen und Kollegen abzulösen. Eine Halbtagsstelle lässt sich in einen solchen Schichtplan am Band nur dann integrieren, wenn jemand anderes den Rest der Zeit am Band steht. Trotzdem gilt BMW als beliebter Arbeitgeber: Der Konzern kümmere sich um seine Leute, hört man in der Region, und er bringt Wohlstand. Aber eben auch viel Ungleichheit.
Die Ursachen dafür sieht BMW nicht im eigenen Haus, sondern in der Gesellschaft. In den relevanten Studiengängen sei der Frauenanteil gering, teilt ein Unternehmenssprecher mit. BMW zahle überdurchschnittliche Gehälter, es gebe eine betriebliche Kita und die Vergütungsstrukturen seien diskriminierungsfrei. „Wir tun uns schwer, den BMW-Bezug zum Thema Gender Pay Gap zu erkennen“, so der Sprecher. Einen Werksbesuch wolle man daher nicht ermöglichen.

Der Blick auf Dingolfing, im Hintergrund erkennt man das BMW-Werk. | David Wünschel
In Dingolfing-Landau zeigen sich die extremen Auswüchse einer Arbeitswelt, in der Frauen strukturell benachteiligt sind. In Deutschland leisten sie pro Woche rund neun Stunden mehrunbezahlte Sorgearbeit als Männer. Sie kümmern sich um die Kinder, den Haushalt, sie pflegen die Älteren. Rund jede zweite Beschäftigte arbeitet in Teilzeit, unter den Männern ist es nicht einmal jeder siebte. All das hat Folgen für Karrieren, Rentenansprüche und natürlich für das Einkommen.
Laut der IAB-Studie zum Gender Pay Gap schneiden Männer in 397 von 400 deutschen Kreisen finanziell besser ab als Frauen; besonders groß ist die Lohnlücke an Industriestandorten wie Dingolfing-Landau, Ingolstadt und dem Bodenseekreis. Nur in drei Regionen – Stendal, Dessau-Roßlau und Frankfurt an der Oder, alle im Osten – liegen die Frauen vorne. Dort gibt es statt großer Autowerke große Kliniken, in denen gut bezahlte Ärztinnen arbeiten. Auch das historische Erbe der DDR wirkt bis heute nach: Während im Westen nur etwa jedes dritte Kind unter drei Jahren eine Kita besucht, sind es im Osten mehr als die Hälfte.
Kaum eine Frau wehre sich gegen die traditionelle Rollenverteilung
Wie sich diese Benachteiligung auf das Leben von Frauen auswirkt, lässt sich in Dingolfing-Landau auch aufgrund der BMW-Ansiedlung wie unter einer Lupe ablesen. „Das höhere Männergehalt rechtfertigt, dass Frauen zu Hause bleiben“, sagt Ingrid Ast. „Und Sorgearbeit gilt vielen einfach als weniger wert.“
Die 67-Jährige ist pensionierte Hauswirtschaftslehrerin und lebt in Wallersdorf, einer Ortschaft ein paar hundert Gurkenfelder von Dingolfing entfernt. An einem sommerheißen Dienstagnachmittag hat sie auf ihre Terrasse eingeladen, um über das zu diskutieren, was aus ihrer Sicht falsch läuft für Frauen auf dem niederbayerischen Land. Auch Sandra Fuchs, Susanne Unger und Simone Koller sind gekommen. Auf dem Tisch steht ein Schokoladenkuchen mit Creme und Obststücken, selbstverständlich selbst gebacken. In Niederbayern sei das üblich, sagt Ast. Die Konditorei zähle hier nicht zu den boomenden Berufszweigen.
Ast, Fuchs, Unger und Koller engagieren sich in der Frauenliste Wallersdorf, einem Zusammenschluss ortsansässiger Frauen, die für weibliche Repräsentation im Gemeinderat kämpfen, für betriebliche Kitas und ganz grundsätzlich für mehr Gleichstellung in der Region. Einmal im Jahr betreiben sie einen Infostand zum Gender Pay Gap. Viele Frauen würden zur traditionellen Rollenverteilung einfach „passt schon“ sagen und sie nicht als Problem ansehen. Andere seien durchaus interessiert, sagt Ast. Aber kaum eine wehre sich dagegen.
Die Folgen erleben die Wallersdorferinnen in ihrem Alltag. Sandra Fuchs, 50 Jahre alt, betreut bei einer Bank Immobilienkredite. Nach einer Trennung übernehme in der Regel der Mann das Haus, weil die Frau den teuren Kredit nicht stemmen könne. Viele ließen sich finanziell über den Tisch ziehen, sagt Fuchs: „Dann könnte ich manchmal vor meinem Bildschirm sitzen und heulen.“
Simone Koller, 37 Jahre alt, alleinerziehend, trägt als Bereichsleiterin in einer Kita die Verantwortung für 110 Kinder. Ihr Monatsgehalt für 37 Wochenstunden: rund 2.300 Euro netto. An ihrer Bluse trägt sie eine Brosche mit der Aufschrift „Women’s Rights are Human Rights“. Vor einigen Wochen habe ihre Kita krankheitsbedingt schließen müssen. Daraufhin hätten sich ein Dutzend Mütter beim Träger beschwert – aber kein einziger Vater.
Und Ast sagt: „Ich habe es als Lehrerin jahrelang erlebt, dass die Mädchen die besten Noten hatten. Aber wenn die Kinder kommen, ist es vorbei mit der Karriere.“
Frauen begeben sich in eine Abhängigkeit
Ein paar Zahlen zeigen, wie es auf dem regionalen Arbeitsmarkt um die Gleichstellung bestellt ist. Im Landkreis sind rund 37.000 Männer beschäftigt, aber nur 22.000 Frauen, bei rund 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Auf sieben Fahrzeugtechniker kommt eine Fahrzeugtechnikerin; auf einen Erzieher kommen 24 Erzieherinnen. Junge Männer lassen sich am häufigsten zum KFZ-Mechatroniker ausbilden, junge Frauen zur Bürokauffrau. Die Teilzeitquote ist unter Frauen ähnlich hoch wie im bundesweiten Schnitt, bei den Männern ist sie halb so hoch.
Nadja Bauer-Beutlhauser vom Landratsamt glaubt, dass viele Frauen sich in die Abhängigkeit ihrer gut verdienenden Männer begeben. „Zuerst kommen die Kinder, dann das Eigenheim, da wirkt die Welt noch rosarot“, sagt Bauer-Beutlhauser. Die Probleme tauchten erst auf, wenn eine Ehe zerbricht: „Wenn die Frau sich etwas aufbauen will und plötzlich merkt: Ich habe ja gar nichts.“ Sie selbst führe mit ihrem Mann getrennte Konten: Sie wolle sich ihre finanzielle Eigenständigkeit bewahren.
Trotzdem arbeitet die studierte Wirtschaftspsychologin und Mutter von drei Kindern nur halbtags, weil ihr Mann als ausgebildeter Flurbereinigungstechniker besser verdient.
Vielleicht, sagt Bauer-Beutlhauser, sei man als Karrierefrau in Dingolfing-Landau doch noch etwas Besonderes.
Redaktion: Astrid Probst, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger