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Vor ein paar Wochen war ich zu Besuch bei der Grundschule Sandstraße in Duisburg-Marxloh. Drei Tage lang habe ich erlebt, wie die Realität in einer Grundschule in einer westdeutschen Großstadt ist. Eine Szene ist mir besonders in Erinnerung geblieben:
Ein Junge übersetzte zwischen einer Lehrerin und einem Mädchen. Das Mädchen sprach nur wenig Deutsch und die Lehrerin kein Rumänisch. Der Junge konnte beides. Die Drei saßen auf den kleinen Stühlen, wie sie in deutschen Grundschulen stehen, die Lehrerin vorgebeugt und aufmerksam zuhörend, das Mädchen hatte die Hände im Schoß verschränkt. Der Junge hörte erst der Frage der Lehrerin zu und übersetzte dann für das Mädchen. Nickte, während das kleine Mädchen sprach und übersetzte wiederum für die Lehrerin.
Mich berührte die Szene. Weil der Junge diese Aufgabe mit einer Behutsamkeit übernahm, die ich nur selten bei Kindern sehe. Weil die Lehrerin unbedingt verstehen wollte, warum das Mädchen jedes Mal weinte, wenn es für eine Fördermaßnahme die Klasse verlassen sollte. Und weil die Lehrerin nicht aufgab, nachdem sie es erst auf Deutsch und dann mit einer Übersetzungsapp versucht hatte. Die App machte aus der Antwort des Mädchens das Wort „Minecraft“, ein Computerspiel, das definitiv keine Erklärung für die Emotionen des Mädchens war. Die Lehrerin nahm das Mädchen mit seinen Gefühlen ernst.
„Unzureichende Beherrschung der deutschen Sprache als Integrationshemmnis“
In Duisburg-Marxloh kommen Armut und Migration zusammen. Mehr als die Hälfte der Kinder dort leben in einem Haushalt, in dem Bürgergeld bezogen wird. Mehr als 85 Prozent der unter 21-Jährigen haben einen Migrationshintergrund. Bereits im Sozialbericht von 2018 der Stadt Duisburg wurde „unzureichende Beherrschung der deutschen Sprache als Integrationshemmnis in vielen Bereichen“ als bereichsübergreifender Konflikt und Handlungsbedarf identifiziert. Als weitere Handlungsbedarfe wurden „mangelnde Nachhaltigkeit sinnvoller Projektansätze“ und die „unzureichende Vernetzung von Angeboten und Aktivitäten“ ausgemacht.
Diese Szene konnte so nur passieren, weil die Lehrerin sich die Zeit dafür genommen hat. Sie ereignete sich am zweiten oder dritten Tag meines Besuchs. Da hatte ich bereits verstanden, dass die Realität dieser Grundschule nicht vergleichbar ist mit meiner Grundschulzeit vor fast 25 Jahren. Klar, es gab Kinder mit Migrationshintergrund in meiner Klasse, aber jedes Kind sprach fließend Deutsch.
Kein Frontalunterricht, dafür jahrgangsübergreifend
Laut den Bildungssoziologen Aladin El-Mafaalani, Sebastian Kurtenbach und Klaus Peter Strohmeier kommen die Kinder heute bei einer Schulklasse mit 25 Kindern im Schnitt aus elf (!) verschiedenen Ländern und sprechen zwölf (!) verschiedene Sprachen. Deutsche Schulen sind noch lange nicht auf die neuen Bedingungen eingestellt. Schulen wie die Grundschule Sandstraße versuchen ihr Bestes, ihre Arbeit anzupassen. Das klappt mal besser, mal schlechter. So oder so: Diese Voraussetzungen verändern die Arbeit von Lehrkräften radikal.
Frontalunterricht gibt es an der Grundschule an der Sandstraße kaum mehr. Das würde nicht funktionieren, weil sich die Deutschkenntnisse der Kinder dafür zu sehr unterscheiden. Das ist neben dem generell niedrigen Level an Deutsch eine große Herausforderung. Deswegen arbeiten sie an der Schule mit individuellen Lernplänen.
Eine weitere Maßnahme: Die Kinder bleiben mittlerweile fast alle fünf Jahre in der Grundschule. Das geht, weil es seit 2006 in Nordrhein-Westfalen eine Schuleingangsphase gibt, die bis zu drei Jahre dauern kann. Das dritte Jahr wird dabei nicht auf die Gesamtschulzeit angerechnet. Normalerweise würde diese Phase zwei Jahre dauern, aber an der Grundschule an der Sandstraße hat kaum ein Kind die Lern- und Entwicklungsziele nach Ende der zwei Jahre erreicht.
Die Schule hat deswegen jahrgangsübergreifenden Unterricht eingeführt. Durch diese Maßnahme bleiben die Kinder nicht mehr sitzen, sondern können einfach in ihrer Klasse bleiben. Ein weiterer Grund für den jahrgangsübergreifenden Unterricht: Die Älteren, die schon länger im Schulbetrieb sind, sollen idealerweise Sprachvorbilder für die Kleineren sein.
Ich frage mich: Was hilft wirklich, um den Kindern eine positive Schulerfahrung zu ermöglichen? Was sind die Maßnahmen, die den Kindern am besten helfen, Deutsch zu lernen? Ist eine Kitapflicht die Lösung, Ganztagsunterricht oder braucht es mehr Fachpersonal? Sollte Deutsch gar nicht mehr als der Standard gesehen werden? Wenn du selbst Lehrkraft bist und Erfahrungen damit hast, wenn immer weniger Kinder Deutsch sprechen, kannst du mir dabei helfen. Mach mit bei meiner Umfrage.
Schlussredaktion: Theresa Bäuerlein und Bent Freiwald