Collage: Ein Junge blickt von seinem Buch auf, zwei Mädchen lächeln in die Kamera.

© Anne-Frank-Gesamtschule Duisburg

Kinder und Bildung

Das passiert, wenn eine Schule Beziehungen über Prüfungen stellt

Am Mittagstisch mit den Lehrer:innen über Beleidigungen reden? Das ist an einer neu gegründeten Schule in Duisburg genauso wichtig wie der Unterricht.

Profilbild von Lea Schönborn
Bildungsreporterin

Als Jörg Heinrichs die Mensa betritt, springen die Kinder von ihren Plätzen. Sie winken und brüllen ihn zu sich. „Herr Heinrichs, Herr Heinrichs!“ Der Auslöser der Aufregung trägt kurze silbrig-graue Haare, mehrere Armkettchen, eine hellgraue Anzughose und einen dunkelblauen Rollkragenpullover. Er hält sein Tablett in den Händen und steuert nicht auf den lautesten Tisch zu, sondern auf den mit den ukrainischen Kindern. Ein Mädchen vom lautesten Tisch schreit erst enttäuscht auf und dann frustriert weiter.

Herr Heinrichs ist kein Superstar, er ist der Schulleiter der Anne-Frank-Gesamtschule in Duisburg. Er geht zu dem enttäuschten Mädchen hin und macht etwas, das ich von einem Schulleiter nicht erwarte: Er nimmt sie kurz in den Arm, redet mit ihr und setzt sich erst dann an den anderen Tisch.

Ich sitze neben seiner Stellvertreterin: Nicole Bordelais. Sie sagt mir später, der Vater des schreienden Mädchens sei tot. Die Mutter arbeite immer bis spät am Abend, das Mädchen sei viel alleine zuhause. „Deswegen sucht sie hier nach Liebe“, sagt Frau Bordelais.

Das Team um Heinrichs und Bordelais findet, dass Schule heute nicht mehr nur zum Lernen von Deutsch oder Mathe da ist. Die Rolle von Schulen und Lehrkräften habe sich geändert. Und sie sind mit dieser Meinung nicht alleine. Drei renommierte Bildungssoziologen haben in diesem Jahr ein Buch herausgebracht, in dem sie einen Kulturwandel fordern. In „Kinder – eine Minderheit ohne Schutz“ schreiben Aladin El-Mafaalani, Sebastian Kurtenbach und Kai Peter Strohmeier, dass Schulen Familien ersetzen müssten, zumindest teilweise.

Warum? Kinder verbringen heute mehr Zeit in der Schule als mit ihren Familien. Kinder essen immer seltener gemeinsam mit ihren Familien und kommen aus Elternhäusern, die sich immer stärker unterscheiden. Eine Sache aber bleibt gleich. Für Kinder ist es enorm wichtig zu wissen: Es gibt mindestens einen Erwachsenen, der sich für mich interessiert. Studien zeigen: Je mehr wertschätzende Beziehungen Kinder mit Erwachsenen haben, desto optimistischer sind sie, desto höher ist ihr Selbstwertgefühl und desto wohler fühlen sie sich. Und all das wirkt sich auch auf die Leistung in der Schule aus.

Aber wie kann das gelingen? Wie wird Schule zu einem Ort, an dem Kinder gerne sind? Nicole Bordelais sagt, an der Anne-Frank-Gesamtschule stehe diese Frage an erster Stelle. Deshalb bin ich hier: Was passiert, wenn Lehrkräfte priorisieren, dass es den Kindern gut geht? Fällt der Stoff dann hinten runter?

Schule ist keine Spaßveranstaltung. Oder?

Die Anne-Frank-Gesamtschule wurde neu gegründet, weil die Stadt Duisburg zu wenig Schulplätze hatte. Es ist das erste Mal seit 40 Jahren, dass eine neue Schule in Duisburg gebaut wird. Im Sommer 2026 soll das Gebäude fertig sein. Gerade befindet sich die Schule noch in einem Übergangsgebäude.

Im Herbst stapften die ersten 114 Schüler:innen in ihre Klassenräume, aufgeteilt in vier fünfte Klassen. Im neuen Schuljahr wird die Zahl auf sieben fünfte Klassen erhöht. In neun Jahren soll die Schule fast 2.000 Schüler:innen beherbergen.

Dafür hat die Stadt nach einem Schulleitungsteam gesucht, das bereit war, eine Schule innerhalb von einem Jahr aus dem Boden zu stampfen. Sie fanden es mit Jörg Heinrichs und Nicole Bordelais. Die wollen den Kindern aber nicht nur einen Schulplatz bieten, sie wollen, dass die Kinder sich wohlfühlen.

In einer Zeit, in der 20 Prozent der Schüler:innen angeben, dass sie sich in ihrer Schule nicht wohlfühlen, ist das nicht selbstverständlich. Bei Kindern aus Familien mit niedrigen Einkommen ist die Zahl noch höher: Hier gibt fast jedes dritte Kind an, sich an seiner Schule nicht wohl zu fühlen. Im Rahmen des deutschen Schulbarometers wurden über 1.500 Schüler:innen befragt. Auf die Frage, was ihnen an der Schule gefällt, hat ein Viertel angegeben: die Mitschüler:innen. An zweiter Stelle folgen bereits die Lehrkräfte.

Noch bevor ich mich auf den Weg nach Duisburg mache, schrieb Frau Bordelais mir, dass sie „wie mit einer großen Familie“ gemeinsam Mittag essen würden. Das klang für mich nach einem unangenehmen Startup, das so tun will, als wäre es keine Arbeit, die dort verrichtet wird. Dabei ist es genau das: Arbeit. Und Schule ist doch vor allem eines: eine Pflichtveranstaltung. Und Lehrkräfte keine Eltern.

Oder?

Hundesohn: sagbar. Hurensohn und Kanacke eher nicht

In der Mensa ist es laut wie in einem Konzertsaal mit Hunderten Leuten. Es sind aber nur etwa 30 Kinder zwischen zehn und zwölf Jahren da. Vor mir steht ein Tablett mit Reis, Bohnen, Kartoffelspalten, Gewürzgurken, Tabouleh, Joghurtsoße und verschiedenen Salaten. Eine Lehrerin erzählt später stolz, dass sie ein Mädchen dazu bewegt habe, auch mal Salat zu nehmen. Das Argument, dass Salat gut für die Haut sei, habe gezogen.

An unserem Tisch haben Malon und Enrico gerade getestet, welche Schimpfwörter sagbar sind. Hundesohn: sagbar. Hurensohn und Kanacke eher nicht. Die beiden Jungs sind elf Jahre alt. Vor ihnen stehen Teller mit Spirelli-Nudeln und roter Soße, in denen kleingehackte Würstchen baden. Malon erklärt, was ein Hurensohn ist: „Ein Hurensohn ist ein Kind von einer Mutter, die mit anderen Männern für Geld Sex hat.“ Bordelais nickt zustimmend.

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Ein Stuhl fällt um, Enrico schlägt mit seinen Händen auf den Tisch. Seine dunklen Haare sind an den Seiten kurz rasiert, sein Gesicht ist rundlich und offen. „Frau Bordelais hat gesagt, du hast ADHS“, ruft ein anderer. Frau Bordelais sagt: „Guck dir das mal an“, sie schaut Enrico grinsend an, „wie so ein Stehaufmännchen!“ Die Lehrerin trägt schulterlange braune Haare, hat fast immer eine Brille im Haar und lächelt viel in den zwei Tagen, an denen ich die Schule besuche. Herr Heinrichs sagt über sie, sie sei die mit den tausend Ideen, während er der Realist sei.

Zwischendurch erklärt mir Frau Bordelais, dass hier einer der wenigen Orte sei, an denen Enrico Deutsch spreche. „Manchmal spricht Enrico auch Deutsch, wenn ich zu Besuch bin“, ruft Malon. Und er sagt, Enrico habe ihm ein bisschen Italienisch beigebracht. Der verdreht die Augen und schlägt die Hände vors Gesicht. Er weiß genau, was kommt. Malon ruft „Succiami il cazzo“, heißt auf Deutsch: Leck meinen Schwanz.

„Da sind so Duschen“, sagt Enrico, „für die in den Pyjamas“

Tatsächlich ist die Stimmung am Tisch gar nicht so weit entfernt von der an einem lebendigen Tisch einer großen Familie. Mit dem Unterschied, dass Malon die Erwachsene am Tisch mit „Frau Bordelais“ und nicht mit Mama anspricht.

„Frau Bordelais? Dürfen wir eine Beleidigung sagen, ohne Ärger zu bekommen?“, fragt er. „Immerhin habt ihr ein moralisches Bewusstsein und wisst, dass ihr es eigentlich nicht sagen solltet“, sagt Bordelais mit Belustigung in der Stimme. Ob es eine rassistische Beleidigung oder Nazisprache ist, will sie wissen und schiebt sich einen Löffel Suppe in den Mund.

„Ja?“, Enrico überlegt. „Nein!“, ruft Malon. Die Jungs sind unsicher. „Ich weiß gar nicht, was Nazisprache ist, Digga“, sagt einer der beiden. Frau Bordelais bittet sie zu erzählen. Dann könne sie erklären, warum das wahrscheinlich keine gute Beleidigung ist.

„Hitler muss kommen und dich vergasen“, sagt einer der beiden. Um uns herum ist es laut, ich muss mich richtig anstrengen, um mit den Ohren an meinem Tisch zu bleiben. Malon geht es offenbar genauso. „Malon? Malon? Malon!“ Frau Bordelais versucht, seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie fragt, ob die beiden wissen, was das heißt, jemanden zu vergasen. „Da sind so Duschen“, sagt Enrico, „für die in den Pyjamas.“ Das weiß er aus dem Film „Der Junge im gestreiften Pyjama“. Frau Bordelais erklärt, dass die Nazis auf diese Weise Menschen getötet hätten und dass es deswegen nicht so eine gute Beleidigung sei. Enrico hört zu und Malon ist abgelenkt.

Die Anne-Frank-Gesamtschule liegt in Hamborn, einem für seine Armut bekannten Stadtteil Duisburgs. Fast jedes dritte Kind in Duisburg lebt in einem Haushalt, der Bürgergeld bezieht. In Hamborn ist es sogar fast jedes zweite Kind. 54 Prozent der Kinder an der Schule bekommen einen Zuschuss zum Mittagessen. Armut hat in Deutschland den größten Einfluss auf den Bildungsweg. Sie ist sogar noch einflussreicher als der Migrationshintergrund. Kinder aus armen Familien brechen häufiger die Schule ab, gehen seltener auf Gymnasien und seltener gerne zur Schule. Wir erinnern uns: Sie fühlen sich auch seltener wohl dort.

Beim Mittagstisch geht es mittlerweile darum, dass es Videos von Drake gibt, in denen sein Penis zwei Meter lang ist. Enrico weiß, dass in den Videos ein Filter genutzt wurde. Ein Junge sagt, dass Drake Kinder entführen würde. Die Namen Justin Bieber, Drake, Diddy und XSBROS fliegen hin und her wie Bälle beim Tischtennis, bam-bam-bam. Diddy habe Kinder mit seinen eigenen Kindern gemacht, sagt einer. Frau Bordelais versucht zu verstehen, wie die Jungs auf die Videos stoßen. Sie sagt: „Ich mach mir halt einfach ein bisschen Gedanken über die Sachen, die ihr manchmal im Internet so guckt.“

In der Anne-Frank-Gesamtschule sind Handys verboten. Die Kinder stecken ihre Smartphones morgens als erstes in eine Holzbox und dürfen sie nach Schulschluss wieder mitnehmen. Zuhause hätten Enrico, Malon und die anderen aber häufig unbegrenzt Zugang zum Internet, erzählt Frau Bordelais. Und das, was sie dort sehen, bringen sie auch mit in die Schule.

München und Duisburg sind verschiedene Welten

Diese Schule will kompensieren, was viele Eltern nicht schaffen. Frau Bordelais sagt, dass sie merken würden, wenn zuhause niemand ist, der sich interessiert. Die Schule will den Kindern beibringen, wie man einkauft und wie man sich in Konfliktsituationen richtig verhält. Ihnen Situationen ermöglichen, in denen sie sich selbstwirksam fühlen. Die Lehrkräfte wollen gutes Verhalten belohnen. Es gibt Sterne, die sich die Kinder gegenseitig für moralisch gutes Verhalten geben können. Auch die Lehrkräfte können Kinder vorschlagen. Aber sie wollen sich eigentlich raushalten. Sie wollen, dass die Kinder lernen, für sich selbst und für andere mitzudenken.

Die Lehrkräfte sehen sich als „Verstärker“, als „Unterstützer“ und als „Lernbegleiter“, so sagen sie es mir. Diese Haltung ist nicht für jeden etwas. Zumindest nicht für diejenigen, die finden, dass Schule vor allem bedeutet, fachliches Wissen weiterzugeben. Es stimmt: Lehrkräfte sind keine Sozialarbeiter:innen. Was ich an den zwei Tagen beobachtet und gehört habe, ist aber genau das: Bei Gesprächen mit den Kindern und im Kollegium über die Kinder spielt das Wohlbefinden der Kinder eine viel größere Rolle als ihre Leistungen in Mathe oder Deutsch.

Manche Lehrkräfte kommen genau deswegen hierher. Zum Beispiel Miriam Osvath. Die 31-Jährige war drei Jahre Lehrerin an einem Gymnasium im Zentrum von München. Das sei das komplette Gegenteil gewesen, erzählt sie. Elite, Opern, Theater, das ganze Paket. Regelmäßig hätte Geld auf ihrem Schreibtisch gelegen, mit dem Eltern die Noten ihrer Kinder beeinflussen wollten. Eltern hätten gegen Noten geklagt und Kinder regelmäßig geweint. Laut Frau Osvath aus Angst vor Prüfungen, vor Noten, vorm Sitzenbleiben und aus Angst davor, vom Gymnasium geschmissen zu werden.

Ich habe die Lehrkräfte der Anne-Frank-Gesamtschule gebeten, die Kinder Fragen zu ihrem Leben beantworten zu lassen. Ein Drittel der Kinder hat kein eigenes Zimmer. Die meisten waren schon mal im Kino, aber nur die Hälfte im Theater. Zwei von 28 Kids in einer Klasse waren schon mal im Museum. Auf die Frage, wie die perfekten Ferien aussehen, schreibt ein Kind: „mit dem Auto in die Türkei also in den Urlaub fahren mit meiner Familie zusammen und da spaß haben und mich ausruhen und entspannen.“ Ein anderes schreibt: „schön auf Balkonien sein und in garten zocken.“ Ein Kind wünscht sich, dass die Ferien ausfallen und Schule ist.

60 der 114 Schüler:innen an der Schule haben einen Migrationshintergrund. Zwölf der 60 sind in den letzten vier Jahren nach Deutschland gekommen. Sie sprechen mindestens 15 verschiedene Sprachen – und Deutsch ist meist nicht die Erstsprache. So haben es die Eltern angegeben. Es gibt Kinder, die die Arbeitsanweisungen nicht verstehen, weil ihr Deutsch noch nicht gut genug ist und solche, die zwar Deutsch, aber nicht mal fünf Minuten stillsitzen und zuhören können.

In der muffigen Sporthalle herrscht ein anderes Klima

Ich frage mich, wie man all diesen Kindern gerecht werden soll. Um das zu schaffen, hat das Schulleitungsteam ein Konzept erarbeitet. Die Schlagwörter klingen so: „vernetzt“, „offen“, „füreinander da“, „hier zu Hause“ und „in die Zukunft gerichtet“. Nach zwei Tagen an der Schule beschleicht mich das Gefühl, dass die Haltung der Lehrkräfte viel wichtiger als das theoretische Konzept ist. Fast alle, die an der Schule arbeiten, sind den Kindern zugewandt. Die Kinder merken das. Wenn sie an Frau Osvath oder Herrn Heinrichs vorbeirennen, wollen sie ein High Five. Oder eine Umarmung.

In meinem Kopf taucht immer wieder die Frage auf, ob es zu viel Nähe zwischen Kindern und Lehrer:innen geben kann. Ich weiß noch genau, wie ich in der fünften Klasse meine Klassenlehrerin einmal Mama genannt hatte. Dafür habe ich mich damals sehr (!) geschämt. Gerade rennt Fatima wieder auf Frau Osvath zu und umarmt sie, Frau Osvath erwidert die Umarmung. Ich frage sie, wie sie damit umgeht. Sie sagt, sie würde die Kinder nicht von selbst umarmen, aber wenn sie es einfordern, würde sie nicht sagen: „Halt! Stopp! Näher darfst du mir nicht kommen!“ Sie findet, die Kinder würden schon genug Ablehnung erfahren.

Am Nachmittag schaue ich noch kurz bei der Handball-AG vorbei. Die Halle empfängt mich mit dem typisch muffigen Sporthallengeruch. Um zwanzig nach eins sind gerade mal sieben Kinder da, fünf Minuten nach offiziellem AG-Beginn. Nur einer der Jungen trägt Turnschuhe, die anderen schlittern auf Socken durch die Halle. Ich stelle mich dem AG-Leiter vor. Er sei kein Lehrer, habe aber bereits Frauen- und Männerteams der Handball-Bundesliga trainiert. Jetzt fokussiere er sich aber auf den Jugendbereich.

Er sei noch an zwei Grundschulen und an einem Gymnasium beschäftigt. „Das hier ist aber was ganz anderes“, flüstert mir vertrauensvoll zu. Er zeigt auf die Kinder. Mit denen sei es schwierig, sagt er. „Die können das nicht so.“ Was genau meint er? Zuhören? Handball spielen? Schuhe mitbringen? Er lässt die mittlerweile 15 Kinder auf zwei Tore werfen. Alle wollen ins Tor, sie strecken die Hände in die Höhe und brüllen „Ich! Ich!“ Etwa ein Drittel trägt jetzt Sportschuhe. Innerhalb von einer halben Stunde brüllt der Trainer mehrmals durch die Halle, er müsse sich das nicht antun. Mir ist immer noch nicht ganz klar, was das Problem ist. Die Kinder verhalten sich ähnlich wie am restlichen Tag. Sie sind immer mal wieder laut, befolgen aber grundsätzlich seine Anweisungen. Er dreht sich zu mir um und sagt: „Siehst du? Genau das habe ich gemeint.“

Ich glaube, er meint, dass sie laut sind. Dass sie manchmal Bälle werfen, obwohl sie die Bälle festhalten sollen. Ich merke in dieser knappen halben Stunde vor allem eines: Es ist nicht selbstverständlich, wie die anderen Erwachsenen an der Anne-Frank-Gesamtschule mit den Kindern umgehen. Vielleicht ist es das Wichtigste, sie nicht von vornherein abzustempeln.

Frau Bordelais glaubt, dass Fachwissen heute nicht mehr so wichtig ist

Dienstagmorgen steht Frau Bordelais vor der 5d. Die Klasse hat gerade ihre Gewaltpräventionseinheit absolviert. Einmal die Woche machen die Klassen Übungen, mit denen sie lernen sollen, ihre Konflikte ohne Gewalt zu lösen. Jetzt will Frau Bordelais zehn Minuten Input geben, aber die Kinder reden. Immer wieder öffnet sich die Tür, weil noch eines hineinschlüpft. Frau Bordelais klatscht rhythmisch in die Hände: klapp-klapp-klapp. Genauso schallt es aus über zwanzig Händepaaren zurück. Für eine Minute ist es ruhig. Dann ist die Lautstärke wieder da. „Überlegt euch jetzt, ob ihr es schafft, euch für zehn Minuten zu konzentrieren. Sonst geht selbstständig raus“, fordert Frau Bordelais. Sie schaut dabei Lenox an, der auf seinem Stuhl rumwackelt. Niemand steht auf.

Frau Bordelais fragt die Kinder, was es braucht, um ein Buch zu lesen. Ein Mädchen mit langem, geflochtenen Zopf ruft: „Ich kann gut lesen!“ Sie flüstert ihrem Nachbarn zu, der sich just unter seinem grünen Pulli versteckt hat und die Wasserflasche vor sich mit seinen Händen beschwört: „Ich kann Deutsch“, als hätte er das in Frage gestellt. Sie ist diejenige, die Herrn Heinrichs in der Mensa zu sich brüllen wollte.

Schon diese zehn Minuten Input zeigen mir, wie schwer es ist, die 28 Kinder zur selben Zeit still zu bekommen. Nicht nur deshalb lernen sie hier mit Lernbüros, Werkstätten und regelmäßigen Projekttagen. Die Schulleitung möchte, dass die Kinder lernen, selbstständig zu lernen und Verantwortung für ihr eigenes Handeln zu übernehmen. Wöchentlich führen die Lehrkräfte Lerncoaching-Gespräche mit den Kindern. In diesen Gesprächen wollen sie die Kinder in ihrem Lernprozess unterstützen.

Nachdem Frau Bordelais zehn Minuten lang versucht hat, mit den Kindern darüber zu sprechen, was sie zum Lesen eigentlich brauchen, sollen sie es tatsächlich tun: lesen. Es dauert ein paar Minuten, bis alle ihren Platz gefunden haben. Ein Junge quetscht sich in die Lücke zwischen Wand und Regal. Zwei Jungen lesen sich vor, obwohl um sie herum gerannt und geschrien wird und immer wieder Stühle umfallen. Ein Junge, dem vorgelesen wird, steht zwischendurch auf. Hamza liest ungestört weiter. 30 Minuten ohne Pause. Ein Mädchen sitzt verbarrikadiert unter einem Tisch und liest. Ein Mädchen hat Kopfhörer in ihren Ohren, ihre Haare hängen wie Vorhänge vor ihrem aufgeschlagenen Buch. Frau Bordelais hat ihr erlaubt, Musik zu hören, aber nur ohne Gesang! Ein Mädchen in der Ecke starrt in die Luft. Im Raum gegenüber fläzen mehrere Kinder auf Sitzkissen und lesen.

Kinder sitzen auf den Sitzsäcken im sogenannten Differenzierungsraum und arbeiten an ihren Heften.

Kinder sitzen auf den Sitzsäcken im sogenannten Differenzierungsraum und arbeiten an ihren Heften. | © Anne-Frank-Gesamtschule Duisburg

Wie gut das Lernkonzept an der Anne-Frank-Gesamtschule funktioniert? Auf mich wirkt es so, als wären die Lernbüro-Sessions erfolgreicher als der Versuch, 28 Kindern gleichzeitig etwas zu erklären. Perfekt ist es aber auch nicht. Manche Kinder arbeiten sich selbständig durch ihr Buch. Andere schlagen ihr Buch erst auf, wenn Frau Bordelais neben ihnen steht und fragt, was los ist. Der Erfolg deutscher Schulen wird aber vor allem an den schulischen Leistungen gemessen, an den Notendurchschnitten und den Ergebnissen der PISA- und IGLU-Tests. Beim ersten Jahrgang der Schule überhaupt wurde noch nichts gemessen.

Ich frage Frau Bordelais, ob sie glaubt, dass die Kinder hier weniger lernen. Sie sagt, es könne schon sein, dass die Schüler:innen auf dem Papier weniger Faktenwissen parat haben. Das liege aber daran, dass viele Dinge, die sie lernen, nicht mit klassischen Prüfungsformaten abgefragt werden. Statt Jahreszahlen oder Reimschemata lernen sie KI-Bots zu programmieren oder eigene Projekte umzusetzen. Priorität der Schule sind aber die sozialen Skills. Sie sagt: „Wenn sie die hier nicht lernen, lernen sie sie später nirgendwo mehr.“

Seit Neuestem trägt Fatima sogar Brille

Im Sommer 2026 wird die Schule in ein neues Gebäude ziehen. Der neue Stadtteil wird sehr viel wohlhabender sein und der Plan für das Gebäude klingt verheißungsvoll. Auf dem Schulhof sind Aktivitäts- und Ruheorte geplant, es soll sogar Hängematten und eine Boulderwand geben. Im Gebäude werden sogenannte Heimatbereiche für jeweils zwei Jahrgangsstufen eingerichtet. Es sind auch ein Fahrradstellplatz für über 600 Fahrräder und eine Fahrradwerkstatt geplant. Auf dem jetzigen Schulhof sehe ich kein einziges Rad.

Einmal die Woche treffen sich die Lehrer:innen für eine Konferenz. Dort berichten die Lehrkräfte auch von Momenten, die sie stolz gemacht haben. Frau Osvath erzählt, dass Fatima seit Neuestem ihre Brille trägt. Bisher hatte sie immer Angst, dass die anderen denken, sie sei eine Streberin. Frau Osvath hat sich immer wieder mit ihr vor den Spiegel gestellt, selbst die Brille aufgesetzt, ihr gesagt, dass sie gut damit aussehe. Mit Erfolg. Gestern sei Fatima das erste Mal mit ihrer Brille in die Schule gekommen.

Als wir danach auf dem Schulhof stehen, erzählt die Lehrerin, dass die Schüler:innen des Gymnasiums in München vielleicht schon alle mit ihren Eltern in der Oper gewesen seien. Aber an der Anne-Frank-Gesamtschule in Duisburg hätten fünf Kinder im Musikunterricht freiwillig ein Solo singen wollen. Vor der ganzen Klasse. Angst scheinen die Kinder hier keine zu haben.


Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Das passiert, wenn eine Schule Beziehungen über Prüfungen stellt

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