Seit Monaten hungert die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens, 2,1 Millionen Menschen. Manche durchsuchen Mülltonnen, andere überfallen LKWs mit Hilfslieferungen oder werden in der Nähe der Ausgabestellen für Essen beschossen. Das World Food Programme der Vereinten Nationen warnt vor einer Hungersnot. Die Lage spitzt sich so zu, dass sich selbst in Deutschland die Debatte verändert. Auch Bundeskanzler Friedrich Merz hat die Kriegsführung Israels Ende Mai kritisiert.
Seit Beginn des Krieges, nach den grausamen Ermordungen und Entführungen von Israelis durch die palästinensische Terrormiliz Hamas am 7. Oktober 2023 ist die humanitäre Lage im Gazastreifen prekär. Früh erhoben vor allem palästinensische Aktivist:innen den Vorwurf, Israels Vorgehen gleiche einem Genozid.
Diese Einschätzung teilten viele Experten nicht – jedenfalls in den ersten Monaten des Krieges. Nun aber ändern immer mehr ihre Meinung.
Für den Vorwurf „Völkermord“ gibt es klare Kriterien
Es gibt für den Tatvorwurf Völkermord eine enge rechtliche Definition, die auf eine UN-Resolution von 1948 zurückgeht.
Seither haben Gerichte wie der Internationale Gerichtshof (IGH) und der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) durch Urteile geprägt, was aus einer juristischen Perspektive als Völkermord gilt:
- Ein Völkermord kann vorliegen, wenn Mitglieder einer bestimmten Gruppe getötet werden, wenn diese Gruppe unter Bedingungen leben muss, die dazu dienen, sie zu vernichten; bei Zwangssterilisationen, wenn Kinder ihren Eltern weggenommen werden oder wenn körperlicher oder psychischer Schaden über Gruppenmitglieder gebracht wird. Diese Verbrechen müssen an einer ethnischen, religiösen oder nationalen Gruppe verübt werden.
- Theoretisch reicht es, wenn eine einzige Person aus der Gruppe zu Schaden kommt.
- Wichtig: Hinter diesen Taten muss unmissverständlich die Absicht stecken, diese Gruppe zu vernichten. Das macht es schwer, einen Völkermord nachzuweisen.
Das gilt schon bei einzelnen Tätergruppen, bei Regierungen eines Staates umso mehr. Denn die wenigsten Regierungen verfassen ein Dokument wie die Nazi-Regierung mit dem Protokoll der Wannsee-Konferenz, aus dem sich klar die Absicht herausliest, eine Bevölkerungsgruppe gezielt auszulöschen.
Es geht bei diesem Vorwurf aber um mehr
Dabei wird über den Genozid-Begriff oft eine andere Frage verhandelt, nämlich inwiefern Israels Vorgehen im Gazastreifen legitim ist. Das Wort Genozid gibt dem Grauen des aktuellen Krieges für viele einen Namen, gilt es doch als das schlimmste aller Verbrechen.
Die einen pochen auf Israels Selbstverteidigungsrecht und sagen, die Hamas könnte den Krieg sofort beenden, wenn sie alle Geiseln zurückgeben würden, wie etwa der Grünen-Politiker Volker Beck in der Zeit. Aus dieser Perspektive kann der Krieg erst vorbei sein, wenn die Hamas politisch tot ist.
Andere erwidern: Mit den Vertreibungen, Bombenangriffen auf Krankenhäuser und Schulen ist längst jede Verhältnismäßigkeit verloren gegangen, weil die palästinensische Zivilbevölkerung so sehr unter dem Krieg leidet. 80 Prozent des Gazastreifens sind inzwischen zerstört, viele Palästinenser:innen wurden acht, neun oder zehn Mal vertrieben, haben zahlreiche Familienangehörige verloren. Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International oder Genocide Watch warnten deshalb schon lange vor einem Genozid, auch als viele Völkerrechtler:innen bei dieser Einschätzung noch zögerten.
Was die Expert:innen sagen
Der Zugang zum Gazastreifen ist abgesperrt, es lässt sich kaum unabhängig überprüfen, wie Israel dort im Einzelfall vorgeht, unter welchem Krankenhaus sich wie viele Hamas-Kämpfer verstecken. Auch Außenstehende wissen aber, dass Israel sich seit Beginn des Krieges immer wieder weigert, Essenslieferungen in den Gazastreifen zu lassen. Man kann deshalb argumentieren, dass der palästinensischen Bevölkerung von der israelischen Regierung Lebensbedingungen auferlegt werden, die sie als Gruppe zerstören. Unbestritten ist, dass die palästinensiche Bevölkerung körperlichen und seelischen Schaden genommen hat. Das schreiben etwa die Jurist:innen Kai Ambos und Stefanie Bock im Verfassungsblog.
Aber wie steht es um die Vernichtungsabsicht?
Gerade zu Beginn des Krieges gab es Statements von israelischen Regierungsmitgliedern, die man so interpretieren könnte. Der damalige Verteidigungsminister Yoav Gallant nannte Palästinenser:innen menschliche Tiere. Diese Kriegsrhetorik hat abgenommen, aber nicht ganz aufgehört. So erklärte der ultranationalistische Finanzminister Bezalel Smotrich im Mai 2025, dass der Gazastreifen in ein paar Monaten abgesehen von einem kleinen Bereich komplett zerstört sein werde. Dort werde sich die Bevölkerung konzentrieren. „Sie werden völlig verzweifelt sein, erkennen, dass es in Gaza keine Hoffnung mehr gibt, und nach Möglichkeiten suchen, anderswo ein neues Leben zu beginnen.“ Wo die Bewohner:innen des Gazastreifen hinziehen sollen? Unklar. Die Grenze zu Ägypten ist geschlossen.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat Hinweise darauf gesammelt, dass diese Art von Rhetorik in der israelischen Armee auch verbreitet ist.
Die Völkerstrafrechtlerin Julia Geneuss von der Universität Potsdam sagt: „Je länger der Krieg dauert, desto unklarer werden die Kriegsziele Israels.“ Israels Regierung erklärt zwar, sie wolle die Hamas vernichten, aber wann wird sie als vernichtet gelten? Wichtige Anführer:innen sind bereits tot, der Großteil des Gazastreifens zerstört.
Völkerrechtler Michael Becker vom Trinity College in Dublin war zuerst zögerlich, Israels Taten als einen Genozid zu beschreiben. Er will sich nicht auf einen genauen Zeitpunkt festlegen, an dem er seine Meinung geändert hat. Aber spätestens seit dem Ende der Waffenruhe und der wiedereingeführten Blockade denkt er, dass die Beweislage stark darauf hindeutet, dass die Genozid-Definition die Situation im Gazastreifen treffend beschreibe.
Denn Israel behaupte zwar, es würde alles tun, um zivile Todesopfer zu vermeiden, aber die Berichte aus Gaza zeichneten ein anderes Bild. Es wäre die Aufgabe Israels, anhand von Beweisen zu verdeutlichen, dass es nicht vorhabe, die palästinensische Bevölkerung zu vernichten. Er sieht nicht, dass Israel das getan habe.
Auch der Völkerrechtler Matthias Goldmann von der EBS-Universität für Wirtschaft und Recht deutet die Beweise so, dass ein Genozid wahrscheinlich vorliegt. Er sagt: „Seit der Wiederaufnahme der Kämpfe im März ist es immer schwieriger, in dem Handeln der IDF legitime Kriegsziele zu erkennen.“ Stattdessen sei mit dem Trump-Plan ja die Vertreibung der Palästinenser offen kommuniziert worden und die israelische Regierung habe diesen Plan befürwortet. Er hat den Eindruck, diese Vertreibung finde gerade statt, etwa durch die Blockade von Hilfsgütern von Hilfsorganisationen und die Konzentration der Bevölkerung auf einen kleinen Raum.
Vorsichtiger äußert sich die Völkerstrafrechtlerin Julia Geneuss. Sie sagt: „Anhand des Materials gibt es den begründeten Verdacht, dass Israel in Gaza Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht.“ Darauf deuteten auch die Strafbefehle vom IStGH gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu hin. Beim Vorwurf des Genozids sei die Rechtslage hingegen unklarer, da der Nachweis der Zerstörungsabsicht ungleich schwieriger sei.
Wie der Internationale Gerichtshof Genozid-Fälle angeht
Schlussendlich werden das auch nicht einzelne Völkerrechtler:innen entscheiden, sondern der Internationale Gerichtshof in Den Haag. Dort hatte Südafrika im Dezember 2023 gegen Israel geklagt, Vorwurf Völkermord. Das Urteil wird in den kommenden zwei, drei Jahren erwartet.
Selbst Völkerrechtler:innen wie Michael Becker, die von einem Genozid im Gazastreifen sprechen, werden etwas vorsichtiger, wenn es um den Ausgang des IGH-Prozesses geht.
Denn es bräuchte viele gute Beweise, um zu belegen, dass die Regierung die palästinensische Bevölkerung vernichten will. Die Zerstörungsabsicht muss die einzige plausible Erklärung für Israels Vorgehen sein. Deshalb hat der IGH in der Vergangenheit sehr zurückhaltend geurteilt. So hat er zwar 2007 das Massaker in Srebenica als Genozid eingestuft, aber trotzdem entschieden, der serbische Staat habe keinen Völkermord begangen. Auch die anderen Massaker nach dem Zerfall Jugoslawiens gelten nicht als Genozid.
Bei einem anderen Verfahren vor dem IGH gibt es einen Vorstoß von Deutschland und anderen Ländern, die rechtliche Hürde für den Genozid niedriger zu hängen. Sie wollen erreichen, dass es ausreicht, wenn eine Vernichtungsabsicht auf Grundlage der Beweise der wahrscheinlichste Schluss ist, nicht nur der einzig mögliche. Aber auch, wenn sich am Beweismaßstab nichts ändern sollte: Die Völkerrechtler Becker und Goldmann halten es für immer wahrscheinlicher, dass der IGH entscheidet, es handle sich bei der Situation in Gaza um einen Genozid.
Aber für die Völkerstrafrechtlerin Julia Geneuss ist die Genozid-Debatte aktuell nicht entscheidend: „Es wäre wichtig, sich weniger um eine juristische Bewertung der Lage zu streiten, sondern erstmal dafür zu sorgen, dass das Leid aufhört.“ Sie meint: ob es sich um einen Genozid handelt oder nicht, darüber kann man auch diskutieren, wenn die Bevölkerung im Gazastreifen nicht mehr hungert und nicht mehr in Schulen Schutz sucht, die dann doch bombardiert werden.
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert