Viel Schuld und wenig Sühne
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Viel Schuld und wenig Sühne

Vor einem Jahr kam es auf dem zentralen Platz der ukrainischen Hauptstadt Kiew zu einem Blutbad mit Dutzenden von Toten. Auf die Maidan-Revolution folgte ein Krieg. Sonja Koschkina, Chefredakteurin der Onlinezeitung lb.ua, versucht jetzt in ihrem Buch zu rekonstruieren, was im Februar 2014 zu dem Massaker führte. Ein Interview.

Profilbild von Moritz Gathmann

Frau Koschkina. Am 18. Februar jährten sich die tragischen Ereignisse auf dem Kiewer Maidan. Was passierte an diesem Tag genau?

Seit dem frühen Morgen schossen aus dem Konservatorium Maidan-Aktivisten auf die Polizeieinheiten. Deren Kommandeure begannen in Panik, ihre Vorgesetzten anzurufen, aber es gab keine Reaktion. Deshalb entschieden sie sich zum Rückzug.

Und wer waren diese Schützen?

Nach den Ereignissen des 18. Februar 2014, an dem ein großer Teil der „Samooborona“ (Selbstverteidigungseinheiten) des Maidans zerschlagen wurde, gab es Leute, die sich rächen wollten, also zu den Waffen greifen und auf die Polizei schießen. Ich vermute, dass es eben diese Leute waren.

Wie kam es dann zu den massenhaften Erschießungen der Maidan-Aktivisten?

Beim Rückzug der Polizei blieben im Oktoberpalast versehentlich einige Dutzend Polizisten zurück. Eine Sondereinheit von Berkut wurde nach vorne geschickt, um ihren Abzug zu decken. Die schoss aus Kalaschnikows auf die Maidan-Aktivisten, die zum Angriff übergegangen waren.

Sondereinheit von Berkut: Auf Videos erkennbar an den gelben Armbinden, etwa hier:

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Von wann stammte der Schießbefehl, und wer hatte ihn ausgegeben?

Der Schießbefehl wurde schon am 14. Februar gegeben, allerdings ist nicht genau nachzuweisen, von wem. Aber ich habe herausgefunden, dass Stanislaw Schuljak, Kommandeur der Truppen des Innenministeriums, an diesem Tag erstmals scharfe Munition an seine Einheiten verteilen ließ. Zu diesem Zeitpunkt wurden auch die Scharfschützen verschiedener Eliteeinheiten auf den Dächern rund um den Maidan postiert. Sie hatten den Befehl, für den Fall eines Durchbruchversuchs scharf zu schießen. Genau das passierte dann am 20. Februar.

Schuljak floh in der Folge auf die Krim.

Das heißt, an diesem Tag schoss nicht nur die Spezialeinheit von Berkut mit den gelben Armbinden, sondern auch die Scharfschützen von den Dächern...

Ja. Allerdings ist nur bei etwa 20 von 53 Getöteten dieses Tages genau geklärt, womit sie erschossen wurden. Bei 16 fand man die Kugeln aus Kalaschnikows, nur bei einem fand man die Kugel aus einem Scharfschützengewehr. Bei vielen Opfern kann nicht mit endgültiger Sicherheit gesagt werden, mit welcher Waffe sie erschossen wurden, weil die Kugeln die Körper durchschlagen haben.

Laut Koschkinas Recherchen sind vier der 53 Toten Mitglieder der Polizeieinheiten.

Haben Sie irgendwelche Fakten gefunden, die die Version einer „dritten Kraft“ bestätigen würden, von der sowohl Maidan-Führer als auch Vertreter des Regimes immer wieder gesprochen haben? Die ersten sprechen von russischen Scharfschützen, die anderen von ausländischen Schützen, die von den politischen Führern des Maidans angeworben wurden. Da gab es etwa ein Video, das angeblich Vitali Klitschko gezeigt wurde, und auf dem ein Schütze zu sehen sein soll, der sowohl auf die Demonstranten als auch auf die Polizei schießt.

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Für diese Versionen gibt es überhaupt keine Belege. Das waren Ablenkungsmanöver von beiden Seiten, um zu zeigen: „Das waren nicht wir.“ Das von Klitschko angeblich gesehene Video wurde nie veröffentlicht. Ich bezweifle, dass es jemals existiert hat.

Seit dem Sturz von Janukowitsch ist gerade zum dritten Mal der Generalstaatsanwalt ausgewechselt worden. Welche Aussichten sehen Sie für eine Bestrafung der Verantwortlichen für die Morde auf dem Maidan?

Nach dem Sieg des Maidans wurde der Nationalist Oleg Machnizkij zum Generalstaatsanwalt ernannt. Nachdem Petro Poroschenko bei den Präsidentschaftswahlen gesiegt hatte, wurde Machnizkij im Juni 2014 durch Witalij Jarema ersetzt, ein Vertrauter des Präsidenten. Auf Druck des Parlaments wurde Jarema im Februar entlassen, seinen Posten übernahm der 62-jährige Wiktor Schokin, der allerdings ebenfalls als loyal gegenüber Poroschenko gilt.

Die Generalstaatsanwaltschaft macht kaum Anstrengungen, um die Führer des Regimes zur Verantwortung zu ziehen. Nehmen wir Alexander Janukowitsch, den Sohn des Präsidenten: Ich konnte ihn ohne Probleme in Moskau interviewen, auch die Ermittler hätten ihn zumindest befragen können. Aber es gab nicht einmal einen Versuch.

Aber im Januar hat Interpol auf Kiews Bitte immerhin Janukowitsch und drei weitere führende Mitglieder der ehemaligen Regierung auf ihre Fahndungsliste gesetzt.

Interpol weist allerdings darauf hin, dass eine „Red Notice“ nicht zwangsläufig zu einer Inhaftierung oder Auslieferung führt. „A Red Notice is not an international arrest warrant and INTERPOL cannot compel any member country to arrest the subject of a Red Notice.“

Das ist viel zu spät passiert. Anfang März laufen die Sanktionen der EU gegenüber diesen Regimemitgliedern aus, die in gewisser Weise ein Vorschuss für die Ukraine waren, um diese Leute zur Verantwortung zu ziehen. Auf der EU-Liste stehen 22 Personen. Aber die Staatsanwaltschaft hat es innerhalb eines Jahres nicht geschafft, Beweise zu bringen, die diese Sanktionen rechtfertigen würden. Wenn die EU sich entscheidet, die Sanktionen nicht zu verlängern, dann ist das einzig und allein die Schuld der Staatsanwaltschaft.

Aber zwei Berkut-Mitglieder aus jener Spezialeinheit sitzen seit April in Untersuchungshaft, gegen sie soll demnächst der Prozess beginnen ...

Dmitrij Sadownik, Kommandeur der Einheit, saß bis Oktober 2014 in Untersuchungshaft. Nachdem er in den Hausarrest entlassen wurde, verschwand er. Sein Anwalt behauptet, er habe keinen Kontakt mehr mit ihm, möglicherweise sei er getötet worden. Ukrainische Medien berichten, er sei auf die Krim geflohen.

Alle 21 Mitglieder der Spezialeinheit mit den gelben Armbinden, die an jenem Tag unter dem Kommando von Dmitrij Sadownik eingesetzt worden waren, sind bekannt. Aber das große Problem vor Gericht wird sein zu beweisen, wer wirklich auf wen geschossen hat. Denn alle Mitglieder trugen Masken.

Ein großes Problem für die Ermittler ist, dass vor der Flucht des Regimes sehr viele Dokumente vernichtet wurden, etwa darüber, wer welche Waffen an die Polizisten und an die „Tituschki“ ausgegeben hat. Das gleiche gilt für die „Antiterroristische Operation“, die ab dem 18. startete. Aber die Dokumente, die eigentlich im Geheimdienst SBU liegen müssten, sind nicht da. Und der Verantwortliche ist auf die Krim geflohen.

Eines der wenigen erhaltenen Dokumente sind die Pläne zur Erstürmung des Maidans („Bumerang“ und „Wolna“), die der Leiter des parlamentarischen Untersuchungskomitees Gennadij Moskal am 24.2.2014 veröffentlichte.

Der neue Generalstaatsanwalt hat vor wenigen Tagen behauptet, er habe keine Anhaltspunkte dafür, dass am Morgen des 20. Februar 2014 auf die Polizisten geschossen wurde. Die BBC hat jedoch einen Schützen interviewt.

Zudem existiert ein weiteres, bislang nicht veröffentlichtes Interview mit einem Schützen, das von einem ukrainischen Journalisten aufgezeichnet wurde und dem Autor vorliegt.

Einschussloch im zwölften Stock des Hotels Ukraina, verursacht von einem Scharfschützen

Einschussloch im zwölften Stock des Hotels Ukraina, verursacht von einem Scharfschützen Foto: Moritz Gathmann

Diese Personen sind aber nicht in den Akten des Strafverfahrens zu finden. Die Ermittler sagen, dass sie niemanden finden können.

Oder nicht wollen? Die bekannten Schützen haben in der Folge im Osten des Landes gegen die Separatisten gekämpft ...

Daraus muss jeder seine eigenen Schlüsse ziehen...

Andererseits kämpfen im Osten des Landes auch Polizisten auf Seiten Kiews, die zunächst unter Verdacht standen, an den Morden auf dem Maidan beteiligt zu sein...

Dazu gehört Sergej Asaweljuk, Kommandeur einer Spezialeinheit des Innenministeriums. Er wurde kurz nach den Ereignissen auf dem Maidan beschuldigt, die Erschießungen geleitet zu haben. Seit April kämpft er im Osten des Landes gegen die Separatisten.

Das ist eine moralische Frage: Kann man Blut mit Blut von sich waschen? Ich habe keine Antwort darauf.

Sie sagen, Sie wollten in Ihrem Buch „Maidan. Die unbekannte Geschichte“ Antworten darauf geben, was in jenen Tagen hinter den Kulissen des Regimes passierte. Gibt es Fragen, auf die Sie keine Antworten gefunden haben?

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Ich habe keine Antwort gefunden, warum die Polizei den Maidan am Abend des 18. Februar nicht geräumt hat. Denn sie hatten damals alle Möglichkeiten. Ich weiß noch, wie wir am frühen Morgen des 19. Februar aus unserer Redaktion in der Nähe des Maidans kamen. Zu diesem Zeitpunkt waren auf dem Maidan weniger als eintausend Verteidiger übrig, ihnen standen einige tausend Polizisten gegenüber. Dazu existiert die Theorie, dass die Kommandeure der Einheiten schon merkten, dass das Ende von Janukowitsch naht, und sie die Verantwortung nicht übernehmen wollten.

Wann verstand Janukowitsch, dass der Maidan gesiegt hat, dass er gestürzt ist?

Er hat bis zum Ende nicht verstanden, dass er verloren hat. Erst als er am 22. Februar mit seinem Privatflugzeug auf der Landebahn des Flughafens Donezk stand und ihm die Genehmigung zum Abflug verweigert wurde, verstand er, dass er abhauen muss. Da ist er zerbrochen. Danach floh er auf die Krim und wurde schließlich auf einem Schiff der russischen Marine nach Russland gebracht.

Aber schon am 2. Dezember fuhren die ersten Wagen mit Bargeld aus seinem Anwesen Meschgorje. Auch aus mindestens zwei Banken der „Familie“ wurde damals Geld ins Ausland gebracht.

Als „Familie“ wurde in der Ukraine in den vergangenen Jahren eine Gruppe von Geschäftsleuten rund um Präsident Wiktor Janukowitsch und seinen Sohn Alexander betrachtet, darunter etwa Vize-Premier Sergej Arbusow, Finanzminister Alexander Klimenko und Innenminister Witalij Sachartschenko.

Ahnte er schon damals, was kommen würde?

Nein. Aber sein wichtigster Charakterzug war immer seine Feigheit. Er wollte sich absichern. Ab dem 19. Februar wurden dann schon persönliche Dinge wie Gemälde aus seiner Residenz Meschgorje abtransportiert.

Warum haben Sie für Ihr Buch nicht mit Janukowitsch selbst gesprochen?

Schon sein Sohn hat mir praktisch nichts erzählt. Was Janukowitsch mir erzählt hätte, war völlig erwartbar. Da wollte ich keine Kraft verschwenden.

Wie groß war der direkte Einfluss von Putin auf Janukowitsch?

Die ganze Wahrheit wissen nur diese beiden. Aber ich weiß sicher: Bevor Janukowitsch sich entschied, in Vilnius nicht zu unterzeichnen, traf er sich fünfmal mit Putin. Das letzte dieser Treffen fand in einem abhörsicheren Raum in einer Militärbasis in der Nähe von Moskau statt. Und nach diesem Treffen begann Janukowitsch sich unlogisch zu verhalten, wie ein Mensch, den man sehr stark eingeschüchtert hat. Womit? Darüber kann man nur rätseln.

Sie haben für Ihr Buch mit Janukowitschs älterem Sohn Alexander gesprochen. Welche Rolle spielte er während der Ereignisse?

Der Sohn von Janukowitsch war der wichtigste Falke im Umfeld des Präsidenten. Er hatte großen Einfluss auf seinen Vater. Dabei hatte er damals überhaupt keine offizielle Position, er war einfach Geschäftsmann in Donezk. Nur als Beispiel: Am 18. Februar, als rund um das Parlament Straßenschlachten tobten und Menschen starben, rief der Donezker Geschäftsmann Sergej Taruta ihn an. Er hoffte, dieser könnte seinen Einfluss auf seinen Vater geltend machen, um das Blutvergießen zu beenden. Aber Alexander Janukowitsch sagte ihm: „Das ist unser Schicksal, wir müssen diesen Weg zu Ende gehen. Und das Land von diesen Idioten befreien.“


Sonja Koschkina, (eigentlich Xenia Wassilenko), 1985 in Kiew geboren, ist Chefredakteurin der populären Online-Zeitung lb.ua. Soeben ist ihr Buch "Maidan. Die unbekannte Geschichte“ (nur auf Russisch) erschienen. Dafür interviewte sie sowohl die damaligen politischen Führer des Maidans als auch enge Vertraute von Janukowitsch, wie seinen Sohn Alexander und den Oligarchen Rinat Achmetow. Das Buch ist bislang der erste Versuch ukrainischer Journalisten, die Ereignisse des Maidans umfassend zu rekonstruieren.


Aufmacher-Foto: Maxim Levin. Rechts neben Sonja Koschkina der heutige Präsident Petro Poroschenko

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