Saed Bana, ein Sprecher der Hamas, sagt: An Frieden im Nahen Osten ist ohne eine engagierte Weltgesellschaft nicht zu denken.
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Interview: „Du bist zu Gast in einer Stadt, in der 70 Prozent Hamas wählten“

Saed Bana, ein Sprecher der Hamas, sagt: An Frieden im Nahen Osten ist ohne eine engagierte Weltgesellschaft nicht zu denken. Jung & Naiv traf den Politiker in einem Café in Ramallah. Es ist ein aufwendig übersetztes Gespräch über schwule Parteivorsitzende und jüdische Nachbarn. Aber darf man überhaupt mit ihm reden? Teil 5 der finalen Gespräche in Nahost.

Profilbild von Interview von Tilo Jung

https://www.youtube.com/watch?v=ddBpCWUlH9w

Wir sind in Ramallah. Und wer bist du?

Wer dieses Gespräch weder als Video ansehen (deutsche Untertitel sind verfügbar!), noch lesen möchte, kann sich das Interview hier anhören (Arabisch sollte man sprechen).

Ich bin Saed Bana, ein Führer von Hamas.

Nach einem Hamas-Führer, der mit uns aus dem Westen sprechen will, hat unser Producer Sam ein paar Tage gesucht. Er machte uns schnell klar, dass wir bestimmt niemanden bekommen würden, der Englisch spricht. Anfang der dritten Woche unserer Reise rief Sam dann an: Er habe einen Sprecher gefunden. Die alten Hamas-Sprecher und -Führer in der Westbank seien kurz vor dem Gaza-Krieg von der israelischen Armee verhaftet worden, sodass sich aktuell erst eine neue Führungsstruktur herausbilden würde. Er sei selbst gespannt, ob Saed nun ein alter Hase oder ein eher junges Küken sein würde. Ich habe Saed nicht nach seinem Alter gefragt, aber er schien die Geschichten von den alten Hamas-Hasen vorbildlich aufgesaugt zu haben.

Irgendwie habe ich jemand anderes erwartet. In Deutschland wird uns erzählt, ihr wärt Terroristen. Warum bist du nicht wie ein Terrorist gekleidet?

Dieses Gespräch war das wohl komplizierteste, was wir je gedreht haben. Sam war sich im Vorfeld sicher, dass er problemlos für uns übersetzen könne, doch schon nach der ersten Frage stand mir das Grauen ins Gesicht geschrieben. Nicht weil der Hamas-Sprecher erwartete Parolen absonderte, sondern weil Sam sprachlich heillos überfordert war. Glücklicherweise war der Café-Besitzer an unserem Dreh interessiert und hatte sich hinter den Kameras dazu gesetzt. Er korrigierte Sam sogleich bei den ersten Übersetzungen und übernahm das Hin und Her danach. Also stellte ich meine Frage an Saed auf Englisch, der Besitzer übersetzte für Saed, Saed antwortete, der Besitzer diktierte wiederum Sam, Sam las die Antwort noch mal laut für sich vor und sprach mir die Übersetzung dann ins Mikro. Der Plan war nämlich, basierend auf dem Jung & Naiv-Prinzip, das Gespräch nicht zu schneiden. Sam sollte mir und dem Publikum einfach direkt übersetzen. Am Ende haben wir uns für Untertitel entschieden und Sams Leistung weggelassen.

Hamas-Mitglieder sind ganz normale Zivilisten, die in Freiheit und in Würde leben wollen, wie alle anderen Menschen in der Welt. Wir sind Teil des palästinensischen Volks und kleiden uns wie normale Menschen. Wir trimmen unsere Bärte und sprechen die Sprache von Frieden, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit.

Und so dauerte es am Ende mehr als 80 Minuten, die am Ende kürzeste Folge unserer Nahostreise zu drehen. Ich stellte meine Frage, Saed antwortete (was zusammen ungefähr eine Minute dauerte), und Sam brauchte mit dem freundlichen Besitzer zusammen im Schnitt vier bis fünf Minuten, um Saeds Aussagen aufzuschreiben und dann in einigermaßen mittelmäßiger englischer Aussprache ins Mikro zu sprechen. Die Uncut-Version dieser Folge haben wir bereitgestellt.

Wenn ihr Teil der Palästinenser seid, warum kämpft ihr für sie? Warum wendet ihr Gewalt an?

Hamas hat seit der Gründung nie Gewalt angewendet. Der größte Beweis dafür ist, was gerade in Gaza passiert ist. Die israelische Besatzung ähnelt einem Nazismus im 21. Jahrhundert, der Kinder, Frauen und Familien tötet. Wenn wir das Recht zur Selbstverteidigung unseres Volkes anwenden, wenden wir alles an, was uns nach internationalem Recht, nach internationalen Konventionen und von der Weltgemeinschaft garantiert wird. Jedes Land, jeder Einzelne, der auch einmal im Westen unterdrückt wurde, hatte das Recht sich selbst zu verteidigen, sein Land zu befreien und in Freiheit und Würde zu leben. Und das macht Hamas. Wir kämpfen politisch dafür, dass unsere Stimme für Frieden von der gesamten globalen Gemeinschaft gehört wird, dass wir ein Volk sind, das unter Besatzung und Unterdrückung lebt, und dass wir in Würde und Freiheit leben wollen. Hamas hat nie irgendeine Art von Gewalt angewendet. Israel dagegen verwendet Waffen, die international verboten sind, gegen palästinensische Menschen und Kinder. Sie löschen ganze Familien mit ihren Phosphorwaffen aus. Das ist international verboten.

Diese Feindbilder („Nazi-Armee“, „israelische Nazis“ bzw. auf der anderen Seite „Barbaren“, „Terroristen“ oder „Terrorsympathisanten“) sind auf beiden Seiten des Konflikts tief verwurzelt und werden vor Ort fast schon selbstverständlich ausgesprochen. Wir haben nach circa zwei Wochen diese Bezeichnungen, diesen Bullshit, einfach ausgeblendet. Gerade als Deutsche hätten wir uns über die absurden Analogien aufregen können, nur half es nichts, mit dem moralischen Zeigefinger zu kommen. Über diese Hetze lohnte es sich einfach nicht zu diskutieren.

Wenn Israel illegale Dinge macht, warum macht ihr das gleiche?

Hamas hat überhaupt nicht gegen internationales Recht verstoßen. In der letzten Schlacht gegen die Besatzung wurden wir von der israelischen Nazi-Armee angegriffen. Wir wenden das Recht an, uns und unser Volk zu verteidigen. Wir haben nichts gemacht, was gegen internationales Recht verstößt. Wir haben innerhalb des Rechts gehandelt.

Habt ihr nicht mit der Gewalt begonnen, mit dem Abschuss von Raketen auf Israel?

Damit hier ein klares Bild entsteht: Israel hat die Geschichte von den drei getöteten Siedlern fabriziert. Sie haben sich den Fall ausgedacht. Israel hat die Frauen und Kinder von Gaza angegriffen, und Hamas hat auf Israel, als Reaktion auf diese Aggression, gefeuert. Als die israelische Armee in Gaza einmarschiert ist, waren die Palästinenser und Hamas gezwungen, sich zu verteidigen.

In Deutschland und im Westen hört man immer, dass ihr alle Juden umbringen wollt. Es heißt wohl in eurer Satzung: Hamas will alle Juden töten. Warum wollt ihr das machen?

Hamas ruft zu Frieden und Gerechtigkeit auf, zum Leben in Frieden und Freiheit. Es gibt keine Feindseligkeiten zwischen uns und irgendeinem Juden. Unsere Feindseligkeit richtet sich gegen Zionismus und Nazismus, welche aus dem Westen und Europa kamen und sich im Land von Palästina unrechtmäßig angesiedelt haben.

Ist das neu, dass ihr Juden nicht hasst? Über all die Jahre ist gesagt worden, dass ihr Juden hasst… Habt ihr plötzlich eure Meinung geändert?

Nein. Meine Worte stammen aus der heutigen Hamas-Satzung. Wir haben kein Problem mit Juden. Das Judentum ist eine heilige Religion. Wir haben keine Probleme mit ihnen! Wir haben ein Problem mit denjenigen, die sich im Land der Palästinenser gegen jedes Recht und jede menschliche Moral angesiedelt haben.

Erkennt ihr also Israel an? Wollt ihr mit Israel Frieden schließen?

Wir wünschen jedem Juden, dass er in Frieden in dem Ort lebt, wo er ursprünglich herkommt. Das heißt, unser Problem sind diejenigen, die sich in unserem Land angesiedelt haben. Lasst jeden Siedler, der in mein Land gekommen ist, um sich hier anzusiedeln, in sein Land zurückkehren und dort in Frieden leben.

Das hört sich jetzt nicht nach der Anerkennung des Staates Israel an. Dabei gibt es ihn nun schon 60, 70 Jahre…

Du bist aus Berlin. Wenn jemand aus einem anderen Land kommt und dir dein Haus wegnimmt, würdest du sein Recht anerkennen, in deinem Haus zu leben?

Ich weiß es nicht. Aber denk’ mal an das Beispiel Amerika. Wenn die Indianer heute noch sagen würden: Die Briten sind gekommen und haben unser Land weggenommen! Die Indianer haben auch aufgegeben zu kämpfen…

Die Geschichte ist ziemlich jung. Ungefähr 60 Jahre. Israel hat nicht nur mein Haus genommen, meine Familie und meine Kinder getötet und mich rausgeschmissen. Sie wollen auch nicht, dass ich hier existiere. Laut den Juden ist ein guter Palästinenser ein toter Palästinenser. Sogar im Land von 1967 siedelt Israel sich an, beschlagnahmt unser Land, reißt Kirchen und Moscheen ab und will nicht, dass ich hier leben kann, obwohl die UN-Resolution 242 dies garantiert.

Wenn es wahr ist, dass Israel alle Araber umbringen will, warum sind 20 Prozent der israelischen Bevölkerung arabisch?

Ich glaube, dass israelische Araber auch an Verfolgung und Rassentrennung leiden. Sie beginnen nun einen Volksaufstand, damit sie ihre Rechte, Freiheiten und soziale Gerechtigkeit als israelische Bürger erhalten. So wie jeder andere Israeli. Ich möchte hinzufügen, dass Israel bei jeder Runde neuer Friedensverhandlungen mit Palästinenser-Präsident Mahmoud Abbas an der Rassentrennung festhält und vorschlägt, Land und Bevölkerung zu tauschen. Arabische Israelis sollen in den neuen palästinensischen Staat ausgewiesen und Siedler akzeptiert werden. Dieser Vorschlag bestätigt die Rassentrennung sowie die fehlende Akzeptanz gegenüber anderen.

Spricht du eigentlich für alle Hamas-Mitglieder? Im Westen ist man überzeugt, dass ihr alle Juden töten wollt. Vielleicht werden einige deiner Kollegen, diese militanten Kämpfer, sagen: Alter, was quatscht der denn da? Natürlich hasse ich Juden!

Hamas ist geeint. Wenn ich als Sprecher etwas sage, dann spreche ich für alle Hamas-Mitglieder. Die westlichen Medien stellen uns dar, als ob wir keine Außenstehenden akzeptieren würden. Dabei sitzt du gerade neben mir, trägst Shorts, und ich sitze neben dir. Kein Sicherheitspersonal bewacht uns. Du bist in einer Stadt, in der Hamas bei den letzten Wahlen 70 Prozent der Stimmen bekommen hat. Du sitzt in einem Café, keiner tut dir was und niemand wird dir etwas tun.

Das gilt im Übrigen auch für Juden hier. Zum Beispiel gibt es in Nablus eine jüdische Samariter-Gemeinde. Sie kleiden sich wie wir, wir kleiden uns wie sie. Sie essen, was wir essen, wir essen, was sie essen und leben friedlich zusammen. Wir haben ein Problem mit den Siedlern, die unser Land kolonisieren. Schon vor 1948 haben Juden mit uns zusammengelebt, wir haben in ihren Häusern gesessen und sie in unseren. Sie laden uns ein, wir laden sie ein. Ich wiederhole mich: Nein, wir haben kein Problem mit irgendeinem Juden.

Du hast meine kurze Hose erwähnt. Als ich mit einem Israeli über Frieden gesprochen habe, sagte er: Es wird Frieden geben, sobald ein arabisches Mädchen im Minirock die Straßen von Jerusalem entlanglaufen kann. Stimmst du dem zu?

Vor mir sitzt ein muslimisches Mädchen, das genau die Klamotten trägt, von denen du sprichst. Ich akzeptiere diese Freiheit und sitze mit ihnen am selben Ort. Wir glauben an Freiheiten für den Einzelnen, egal welcher Religion, Rasse oder Nationalität. Bei den letzten Wahlen kamen viele Hamas-Wähler aus der Bildungsschicht und waren Frauen. Einige Christen, die für die Hamas antraten, haben ihre Wahlen gewonnen. Selbst in Gaza, das als extremer eingestuft werden kann, sowie bei den Studentenwahlen an der Birzeit-Universität haben jede Menge weibliche, christliche Wähler für den Hamas-Block gestimmt.

Mit Bana und Gästen im Café

Mit Bana und Gästen im Café Theiler

Du hast all diese Freiheiten angesprochen. In Deutschland ist die Vorsitzende der konservativen Partei eine Frau. In einer anderen Partei war ein Vorsitzender schwul. Ist es bei der Hamas möglich, eine Frau oder einen Schwulen als Vorsitzenden zu haben?

Hamas ist eine politische Bewegung, dessen Plattform auf dem Islam basiert. Im Islam gibt es Dinge, die verboten sind. Eines davon ist Homosexualität. Das ist wie in anderen Religionen verboten. Wenn es um Frauen geht, hat Hamas die meisten weiblichen Abgeordneten im Parlament. Es sind sogar mehr Frauen als bei den linken, liberalen und säkularen Parteien.

Wie kann es Frieden geben und wann kommt er?

Zurück in Berlin bin ich mit zwei Freunden, die ausgezeichnet arabisch sprechen, die Folge nochmal durchgegangen. Ich wollte sehen, ob die Übersetzungen von Sam und dem Besitzer korrekt waren. Der Hamas-Sprecher sollte schließlich wortwörtlich übersetzt werden. Es stellte sich heraus, dass unsere beiden Übersetzer die Worte Saeds doch hier und da ausschmückten, ihn interpretierten oder ihn sprachlich einfach besser aussehen ließen. Die ständigen Wiederholungen von „Frieden“, „Nazi-Armee“, „keine Gewalt“ etc. wurden in der Live-Situation ein wenig beschönigt. Daraus folgte, dass ich mit den beiden Berlinern zwei Tage lang die Folge durcharbeitete und sie mir halfen, Saed wortwörtlich zu übersetzen. Auf dieser Version basieren die Untertitel und dieser Text.

Es gibt Frieden, wenn das palästinensische Volk seine Rechte zugesprochen bekommt. Frieden kommt, wenn Kinder sicher schlafen können, wenn die Palästinenser für ihr Essen und Trinken sorgen können. Das palästinensische Volk befindet sich dank der heutigen israelischen Regierung in einem Belagerungszustand. Uns wird Wasser, Medizin und Essen verwehrt. Man zerstört unsere Häuser. Solange die aktuelle israelische Nazi-Regierung an der Macht ist, wird es, denke ich, keinen Frieden geben. Frieden kann erreicht werden, wenn die internationale Gemeinschaft anfängt zu agieren, wie es die Europäer schon heute mit ihrer Solidarität vormachen. Dafür sind wir ihnen dankbar, damit die Palästinenser ihr Recht erhalten, in Frieden und in ihrem Land leben zu können.

Gib mir eine Jahreszahl. Wann wird’s was werden?

Es liegt alles am Willen der internationalen Gemeinschaft. Am Willen der amerikanischen und europäischen Menschen. Sie müssen ihre Regierungen unter Druck setzen, eine unparteiische Position einzunehmen, damit die Rechte der Palästinenser erreicht werden. Dann wird es auch schnell Frieden geben.

Dieses Interview ist die aufbereitete Version der neunzehnten Folge, die Jung & Naiv in Nahost gedreht haben. Was vorher gefragt und gesagt wurde, hat Stefan Schulz in Eine Sache des Glaubens eingeordnet. Krautreporter veröffentlicht die finalen Gespräche dieser Reihe - wie auch hier mit einer transkribierten Kurzfassung als Text und mit Zusatzmaterial für unsere Mitglieder.

Montag geht es weiter mit Yigal Palmor, Sprecher des israelischen Außenministeriums.

Gespräch: Tilo Jung
Produktion: Alexander Theiler
Untertitel: Cristian Wente

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